Die Hexe
bemerkte der Greis scharfsinnig.
»Ich habe mein Auto dort hinten stehen lassen.« Der Kommissar winkte uninspiriert in Richtung Wald. »Ich bin stecken geblieben.« Plötzlich besann er sich. »Ach, Sie meinen, Nikodim stirbt?«
»Nun ja, wenn Sie rechnen, er ist sechsundneunzig«, erwiderte der Mann augenzwinkernd. »Selbst Wundertäter müssen irgendwann sterben.«
»Ist Nikodim denn ein Wundertäter?«
»Wussten Sie das nicht? Wenn man ein Leiden hat, geht man zu ihm. Wenn man etwas im Voraus wissen will, geht man zu ihm. Sein Glauben ist stark. Aber jetzt ist er am Ende seiner Kräfte.«
Tatsächlich war Nikodim ein tiefgläubiger Mensch. Und kein schlechter Magier. Doch seine Fähigkeiten hielt der Prior für ein Geschenk Gottes und deshalb stellte er sie vollständig in den Dienst seiner Glaubensgenossen.
»Ich werde dann gehen«, sagte Santiago schließlich. »Auf Wiedersehen.«
Mit vorsichtigen Schritten ging der Kommissar auf die Waldklause zu.
»Geh nur, geh nur«, murmelte der Alte in seinen Bart. »Schau einer an, was für Gäste hier aus dem Wald kommen. «
In der Richtung, in die Santiago gewunken hatte, gab es nichts außer undurchdringlichem Sumpf, ganz zu schweigen von einer Straße. Der Schnösel in dem teuren Anzug hatte also gelogen, von wegen, er sei mit dem Auto gekommen. Doch der alte Mann machte sich nichts daraus: Wenn der Unbekannte etwas zu verbergen hatte, bitte schön, Gott möge sein Richter sein.
In der kühlen Mönchszelle herrschte völlige Stille. Durch das kleine Fenster drang kaum Licht herein und im Halbdunkel flackerte eine Öllampe, die vor einer antiken Ikone aufgestellt war. Nikodim, der mit einem bis zu den Füßen reichenden weißen Hemd bekleidet war, lag auf einer Holzbank und starrte reglos an die niedrige Decke. Der gepflegte, weiße Bart des Priors wogte weit auf seine Brust herab und seine dürren Arme lagen kraftlos am Körper ausgestreckt.
Seine Zeit lief ab.
»Bist du’s, Alexej?«, fragte Nikodim mit schwacher Stimme, als er das leise Quietschen der Tür hörte.
»Ich habe den Jungen gebeten, uns nicht zu stören«, antwortete der Gast. »Guten Tag, Nikodim.«
Die Miene des Priors verdüsterte sich.
»Ich wusste, dass du kommen würdest, Dämon, ich wusste es«, seufzte Nikodim. »Aber ich hatte gehofft, dass ich vorher sterben würde.« Er hielt kurz inne und sprach dann weiter: »Richte mir das Kissen.«
»Gern.«
Santiago, der mit dem Kopf beinahe an der niedrigen Zellendecke anstieß, beugte sich herab und schob dem Prior das Kissen unter den Rücken.
»Wie ich hörte, sind Sie im Begriff, das Zeitliche zu segnen?«, erkundigte sich der Kommissar, nachdem Nikodim sich ein wenig aufgesetzt hatte.
»Das bleibt niemandem erspart.« Die verblichenen Augen des Priors bedachten den Nawen mit einem eiskalten Blick. »Nicht einmal dir, Dämon.«
»Ich weiß«, nickte der Kommissar. Er rückte einen Hocker vor die Bank und setzte sich. »Ich muss mit Ihnen reden.«
»Ich wüsste nicht, worüber wir beide zu reden hätten.«
»Doch, da ist eine Sache …« Der Naw lächelte. »Vor über sechzig Jahren hatte ich hier in der Gegend ein kleines Haus.«
»Dein Haus wurde zerstört«, erwiderte Nikodim hustend. »Die Deutschen haben es zerstört. Ich dachte, du wüsstest das.«
»Einige von meinen Sachen sind damals verschwunden«, sagte Santiago hintergründig. »Zum Beispiel eine Schatulle.«
Der Prior blickte zunächst schweigend in die schwarzen Augen des Kommissars, dann sagte er leise: »Gib mir Wasser.«
Santiago reichte Nikodim die Schöpfkelle und wartete geduldig, bis der Prior getrunken hatte.
»Passt man so auf seine Sachen auf, dass man sie erst nach etlichen Jahrzehnten sucht?«
»Für Sie ist das vielleicht eine lange Zeit«, entgegnete der Kommissar. »Für mich ist es gerade so, als wäre es gestern gewesen.«
Nikodim ließ sich von Santiagos Spitze nicht aus der Fassung bringen.
»Dann hättest du auch noch bis morgen warten können und mich nicht auf meine alten Tage behelligen müssen.«
»Morgen wäre es vielleicht schon zu spät gewesen.«
Der Prior gab Santiago die leere Schöpfkelle zurück und lehnte sich wieder zurück.
»Ich weiß nicht, was du von mir willst, Dämon. Es ist nicht meine Aufgabe, auf deine Sachen aufzupassen.«
»Das nicht«, pflichtete Santiago bei. »Aber Sie sind auch ein schlechter Lügner, Nikodim. Ich kann mir an fünf Fingern abzählen, dass Ihre Mönche meine Schatulle gestohlen haben.
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