Die Hexe
christlichen Eremiten?«
»Genau. Kurz vor Kriegsausbruch sind plötzlich immer wieder Mönche von dort aufgetaucht. Ich habe mir noch gedacht, dass die Humos das Unheil wohl auch kommen sehen.«
»Hast du sie auch in der Nähe unseres Anwesens getroffen? «
»Mehrmals.«
»Haben sie dich angesprochen, Fragen gestellt?«
»Nein, ich habe sie einfach nur öfter gesehen.«
»Mit deinen schönen grünen Augen …«
Die Waldklause also? Das war eine Spur. Eine schwache zwar, aber immerhin eine Spur.
Südliches Fort, Hauptquartier der Rothauben
Moskau, Butowo
Donnerstag, 28. September, 16:19 Uhr
Die Bar Delirium befand sich in einem Ziegelbau des Südlichen Forts und erfreute sich bei den Rothauben größter Beliebtheit. Da die bulligen Zwerge mit den roten Kopftüchern nicht zum Vergnügen tranken, sondern den Alkohol zur Aufrechterhaltung ihrer Gehirnfunktionen brauchten, wurde das Delirium niemals geschlossen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnten Rothauben dort einkehren, um den unerfreulichen Ausfallerscheinungen des Whiskeyentzugs zu entgehen.
Die liberalen Öffnungszeiten der Bar wiederum hatten zur Folge, dass dort niemals geputzt wurde, und der bestialische Gestank im Gastraum konnte einem Fremden, der daran nicht gewöhnt war, buchstäblich den Atem verschlagen. Das Delirium war zweifellos einer der übelriechendsten Orte der Verborgenen Stadt. Im linken Flügel des Hauptquartiers, wo sich die Kasernen der Odoros befanden, stank es jedoch noch viel erbärmlicher. Die Odoros waren einer der drei Rothaubenclans und brüsteten sich stets damit, besser zu riechen als ihre Volksgenossen.
Eine weitere Attraktion des Deliriums war ein Rocksong, der dort Tag und Nacht gespielt wurde:
Tränk ich einen See leer,
würd ein anderer Mensch aus mir …
Der Hit der Rockband Sinnhalluzinationen passte wie die Faust aufs Auge in das Lokal und wurde nun schon seit einem halben Jahr im Schnitt alle zwanzig Minuten aufgelegt.
Für immer jung,
für immer blau …
Vor allem die nicht allzu komplizierte zweite Strophe lud zum fröhlichen Mitgrölen ein und immer öfter wurde die Forderung laut, den Song zur Volkshymne zu erklären. Doch der Imperator der Rothauben hielt einstweilen am alten Lied fest, das noch in den Westlichen Wäldern entstanden war. Sein primitiver Marschrhythmus gefiel einerseits den Kämpfern, die nicht gerade mit Musikalität geschlagen waren, und ermöglichte andererseits eine problemlose Anpassung des Texts – je nach den Erfordernissen der Zeit. Alle paar Jahre wurde die Hymne umgeschrieben. Die neueste Version begann mit den Zeilen:
Unser großes Volk ist von Dank erfüllt
Unser gütiger Imperator weist uns allen den Weg …
»Beschissene Zeiten«, jammerte der Uibuj Schlinge und starrte deprimiert auf die halbleere Whiskeyflasche. »Kein Krieg, keine Plünderungen, keine Kohle … Ich seh’s kommen, dass Säbel unser Volk ins Elend führt. Am Ende werden wir alle im Labyrinth landen und uns mit den Ratten der Ossen um ein paar Brotkrümel streiten.«
Als der Uibuj Paddel, der am Nachbartisch vor sich hindämmerte, die Litanei hörte, öffnete sich plötzlich sein linkes Auge und spähte argwöhnisch zu Schlinge hinüber.
»Wohin, sagst du, führt uns der große Imperator?«, erkundigte er sich.
Schlinge presste die schmalen Lippen zusammen. Paddel gehörte dem Fötido-Clan an, dessen Boss Säbel gleichzeitig Imperator aller Rothauben war, und spitzte deshalb stets die Ohren, wenn irgendwo Unzufriedenheit aufkeimte. Die in Clans organisierten, kleinwüchsigen Glatzköpfe hatten einen notorischen Hang zu inneren Fehden, deshalb zogen führungstreue Kämpfer es vor, potenzielle Unruhestifter vorsorglich aufzuhängen, ehe sie mit ihrer zersetzenden Gesinnung ernsthaften Schaden anrichten konnten.
»Der Imperator ist klug und weitblickend«, besann sich Schlinge, der dem Desastro-Clan angehörte. »Er weiß, was er tut, und wird unser großartiges Volk in eine glanzvolle Zukunft führen.«
Zur Bekräftigung seiner Worte schüttete Schlinge ein volles Glas Whiskey in sich hinein und rülpste untertänig.
»Schon besser so«, grummelte Paddel, der freudlos an einem Stück Dosenschinken kaute.
Obwohl der Uibuj Paddel dem einäugigen Säbel die Treue hielt, verfolgte er dessen politische Strategie mit sehr gemischten Gefühlen. Dies galt im Übrigen für fast alle Rothauben.
Nachdem Säbel seine Konkurrenten aus dem Weg geräumt und sich selbst zum Imperator ernannt hatte, hielt er
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