Die Hexe
Flucht hätte man auch Santiago sträflich im Stich gelassen. Denn wenn Cortes mit seiner Vermutung richtig lag und hinter Bogdans Tod eine Intrige der Hexe Kara steckte, dann verfolgten die Söldner als Einzige die richtige Spur. Und da der Kommissar angesichts der drohenden Verhaftung gezwungen sein würde, sich aus der Stadt abzusetzen, konnte nur er, Cortes, diese Spur zu Ende verfolgen und Santiago damit aus der Bredouille helfen.
Der Söldner parkte seinen Lincoln Navigator vor der Hausnummer, die er sich notiert hatte, und stieg aus.
Ein rotbackiger, etwa sechzigjähriger Mann mit munteren blauen Augen öffnete die Tür.
»Zu wem möchten Sie?«
Der Hausherr trug einen glucksenden Wonneproppen auf dem Arm und Cortes lächelte.
»Guten Abend. Ist Barbara Iljinitschna zu Hause?«
»Ja, sie ist hier.«
»Ich würde gern mit ihr sprechen.«
»Barbara!«, rief der Mann und wandte sich um. »Es ist für dich! Kommen Sie doch herein.« Er trat zurück und ließ den Söldner in die Wohnung. »Entschuldigen Sie, wenn es etwas lauter wird, aber die Kinder haben uns heute zum Babysitten eingespannt und unser Enkel kräht schon mal, wenn ihm was nicht passt.«
»Das macht überhaupt nichts«, flötete Cortes. »Wie alt ist er denn, der Kleine?«
»Ein knappes Jahr.«
»Ich liebe Kinder.«
»Ach wirklich?« Aus der Küche kam eine füllige alte Frau mit einem runden Gesicht und blauschwarzen Haaren.
»Ehrlich«, erwiderte Cortes sanft.
Barbara Iljinitschna sah aus wie die Güte selbst. Gewiss pflegte sie stets einen warmherzigen Umgang mit ihren Mitmenschen, doch für den Söldner schien sie eine Ausnahme zu machen.
»Gehen Sie bitte ins Arbeitszimmer«, verfügte sie kühl, und während Cortes vorausging, hörte er sie zu ihrem Mann sagen: »Es wird nicht lange dauern, Petja. Pass du solange auf Nikita auf und nachher geben wir ihm seinen Brei.«
Die Tür des Arbeitszimmers schloss sich.
»Ich habe Sie erkannt«, teilte Barbara mit, während sie sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch setzte. »Es überrascht mich, Sie hier zu sehen.«
Die alte Dame mit dem bläulich schimmernden Haar war eine erfahrene Magierin und verfügte über eine außergewöhnlich seltene Gabe: Sie spürte die Veranlagung eines Zauberers. In weniger als einer Minute konnte sie die magischen Fähigkeiten eines Kandidaten mit hundertprozentiger Sicherheit einschätzen. Und das unabhängig davon, ob es sich um einen Humo, einen Tschuden, einen Luden, einen Schatyren oder sonst jemanden handelte. Da sie keine anderen bemerkenswerten Fähigkeiten besaß und nicht übermäßig ehrgeizig war, arbeitete Barbara Iljinitschna schon seit über vierzig Jahren als stellvertretende Rektorin der Moskauer Zweigstelle der Sonnensee-Schule. Dort widmete sie sich der Auswahl und Grundausbildung angehender Magier und darüber hinaus war sie für deren offizielle Registrierung zuständig. Aus eben diesem Grund hatte Cortes beschlossen, der alten Dame einen Besuch abzustatten.
»In ein paar Minuten muss ich meinen Enkel füttern, ich würde Sie also bitten, möglichst rasch zur Sache zu kommen.«
»Ist Ihnen mein Besuch unangenehm?«, fragte der Söldner ohne Umschweife.
»Offen gestanden – ja. Und sprechen Sie bitte leise, meine Verwandtschaft weiß nichts von der Verborgenen Stadt.«
»Nun denn«, seufzte Cortes und schlug lässig die Beine übereinander. »Da Sie offenbar nicht erpicht darauf sind, meinen Besuch in die Länge zu ziehen, machen wir gleich Nägel mit Köpfen. Ich benötige ausführliche Informationen über eine Humo-Hexe namens Kara. Angesichts dessen, dass Sie über immense Erfahrung verfügen und seit Jahrzehnten in einer Schule des Grünen Hofs arbeiten, ist Ihnen diese Frau mit Sicherheit ein Begriff. Falls Sie für ihre Informationen ein Honorar oder sonst eine Gegenleistung wünschen, genieren Sie sich nicht, ich bin gern bereit, Ihnen in diesem Punkt entgegenzukommen.«
»Sind Sie gegenüber allen Leuten so direkt?«
»Nur gegenüber Leuten, denen mein Besuch unangenehm ist.«
»Verstehe.« Barbara senkte den Blick und überlegte eine Weile, ehe sie antwortete: »Ich habe seinerzeit tatsächlich eine Zauberin namens Kara kennengelernt. Das war vor zwanzig … oder eher vor dreißig Jahren. Sie besuchte die Sonnensee-Schule. Eine junge Frau, die vom Potenzial her nicht ganz an eine Fee des Grünen Hofs heranreichte. Danach habe ich nichts mehr von ihr gehört. « Die alte Dame sah den Söldner herausfordernd an.
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