Die Hexe
sind unsere hauseigenen Unruhestifter, die Rothauben, wieder aktiv geworden. Die wandelnden Whiskeyflaschen nutzten offenbar das Chaos in der Verborgenen Stadt, um mehrere Geschäfte von Humos auszurauben. Erst vor wenigen Minuten wurde ein Überfall auf eine Filiale der Sparbank gemeldet, der zweifellos ebenfalls auf das Konto der Rothauben geht. Es muss die Frage erlaubt sein, ob der Grüne Hof seine Vasallen noch unter Kontrolle hat. Andernfalls wären die anderen Herrscherhäuser gezwungen, …«
T-GRAD-COM
Villa Karavella
Moskau, Silberhain
Donnerstag, 28. September, 17:46 Uhr
Endlose Zahlenreihen, komplizierte Monsterformeln, grob skizzierte DNA-Ketten, Anmerkungen, Pfeile, kurze Zwischenergebnisse und wieder Zahlen, Zahlen, Zahlen … Die chaotische Datenflut hätte wohl auch einen leistungsstarken Computer zum Absturz gebracht, doch Kara behielt stets den Durchblick und ihr Bleistift tanzte behände über den auf dem Schreibtisch verstreuten Papierwust.
Die langwierigen Berechnungen waren für die Zauberin keine Belastung, sondern – im Gegenteil – ein Quell der Freude. Sie liebte die Forschungsarbeit, die kreative Suche nach Lösungen und das aufregende Gefühl, wissenschaftliches Neuland zu betreten. Obgleich Kara sich schon seit geraumer Zeit mit Genetik beschäftigte, wurde ihr dabei nie langweilig und ihr rastloser Forschergeist dürstete nach immer neuen Entdeckungen. Der Ursprung dieser Leidenschaft lag in den Labors des genialen Wissenschaftlers Wawilow, der während des Zweiten Weltkriegs in den Gefängnissen des Imperiums zugrunde gegangen war.
Wawilow. Kara sah von ihren Berechnungen auf und rieb ihren Nasenrücken.
Als die Zauberin damals von den Experimenten des Professors erfahren hatte, setzte sie alles daran, in sein Umfeld zu gelangen, und wurde schließlich sogar seine Assistentin. Wawilow konnte ihr nichts prinzipiell Neues vermitteln, denn die Fragen, mit denen er sich beschäftigte, hatte man in der Verborgenen Stadt schon längst abgehandelt. Doch der Professor hatte die seltene Gabe, vorauszublicken und Erkenntnisse vorwegzunehmen, die sich erst viele Jahre später in der Praxis bestätigen sollten. Deshalb legte Kara größten Wert auf seine Ratschläge, wenn sie an ihren eigenen Problemlösungen arbeitete. Der Professor schätzte die junge, engagierte Assistentin und ahnte nicht, dass die blonde und attraktive Kara beinahe so alt war wie er selbst.
Den Professor gab es nicht mehr und auch von den Kollegen, mit denen sie unter seiner Ägide zusammengearbeitet hatte, war niemand mehr da. Nur sie lebte immer noch und trotzte den Mühlen der Zeit.
Kara erhob sich und trat vor den Spiegel.
Die Natur hat kein Mitleid mit Schwächlingen und Dummköpfen. Wawilow war klug, aber schwach. Bei Kara selbst paarte sich die Klugheit mit Kraft und Zähigkeit, und dennoch ging der unerbittliche Zahn der Zeit auch an ihr nicht ganz spurlos vorüber.
Die Zauberin streifte das Seidenkleid ab, das schwerelos auf ihre Füße niedersank, und besah sich kritisch im Spiegel. Sie verbrachte überhaupt viel Zeit damit, ihren Körper zu betrachten. Ein paar Fältchen um die Augen, die Hände ein wenig spröde – kaum erwähnenswert. Und das im Alter von einhundertacht Jahren! Noch immer war sie begehrenswert und ein schlüpfriger Augenaufschlag genügte ihr meist, um einen Mann in paarungsbereite Stimmung zu versetzen. Kara dachte an Ediks zärtliche Liebkosungen, an Mohammeds stürmische Lust und streichelte mit einem verklärten Lächeln über ihre großen, schweren, aber immer noch straffen Brüste.
Bislang war es der Zauberin gelungen, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen, doch andererseits machte sie sich nichts vor. Ihre hervorragende körperliche Verfassung war das Resultat findiger Tricks, hingebungsvoller Pflege und eiserner Disziplin. Viel Sport, bewusste Ernährung, Heilkosmetik und nicht zuletzt die Magie des Schwarzen Buches verzögerten ihren Alterungsprozess, wenn sie ihn auch nicht verhindern konnten. Doch das genügte Kara nicht. Sie wollte ewig jung bleiben und dachte überhaupt nicht daran, sich mit dem scheinbar Unvermeidlichen abzufinden.
Man soll das Glück aus der Gegenwart schöpfen und nicht aus der Erinnerung an Vergangenes!
Kara schob die blonde Mähne in den Nacken und betrachtete ihren schlanken Hals, an dem sich noch keinerlei Fältchen zeigten. Im Kampf gegen das unerbittliche Rad der Zeit stand der Zauberin eine weitere Schlacht bevor. Diese galt es
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