Die Hexe
gewohnheitsmäßig einen Kommentar des Kommissars erwarteten. Erst als die eingetretene Stille daran erinnerte, dass Santiago diesmal nicht unter ihnen weilte, gaben sie die ersten Stellungnahmen ab.
»Das ist empörend!« Die Stimme des ersten Ratsherrn bebte vor Zorn. »Wie können die Tschuden es wagen, die Auslieferung des Kommissars zu verlangen?!«
»Beim Verdacht auf die Verbreitung verbotener Zauber ist eine solche Forderung durchaus angemessen«, widersprach sein wesentlich besonnenerer Amtskollege. »Schließlich hat auch der Dunkle Hof die Konvention von Kitai-Gorod unterzeichnet, in der solche Aktivitäten als schweres Verbrechen gebrandmarkt werden.«
»Es geht aber doch um unseren Kommissar!«
»Leider ist in der Konvention keine Extrawurst für unseren Kommissar vorgesehen. Die Tschuden haben allen Grund, Santiagos Auslieferung zu fordern. Im Prinzip könnten sie uns sogar den Krieg erklären, wenn wir uns weigern.«
»Ich glaube nicht, dass sie so weit gehen würden.«
»Und ich glaube nicht, dass es sinnvoll wäre, es darauf ankommen zu lassen.« Der Ratsherr wandte sich an Ortega. »Habe ich nicht Recht?«
»Absolut. Der Rauswurf des Kriegsmeisters de Geer, der Santiago eine Frist einräumen wollte, damit er seine Unschuld beweisen kann, zeigt, dass die Tschuden zu allem entschlossen sind.«
»Sind wir auf einen Krieg denn vorbereitet?«
»Ein Krieg steht überhaupt nicht zur Debatte!«, intervenierte der Fürst, der Santiagos listiges Grinsen in der Runde schwer vermisste. »Wenn das alles ist, was euch dazu einfällt, hätte ich mir diesen Termin auch sparen und sofort die Mobilmachung bekanntgeben können.«
»Das Herrscherhaus ist in Aufruhr«, rechtfertigte sich einer der Ratsherren. »Unser Volk ist empört über die Dreistigkeit der Tschuden, und wenn wir keine Härte zeigen …«
»Es geht aber nicht darum, dem Volk nach dem Mund zu reden, sondern einen vernünftigen Ausweg aus der Misere zu finden!«, donnerte der Fürst.
Der Ratsherr senkte beschämt den Kopf.
Die verfahrene Situation entbehrte nicht einer gewissen Kuriosität. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten mussten sich die höchsten Kriegsmagier des Dunklen Hofs in Abwesenheit von Santiago mit einer Intrige in der Verborgenen Stadt auseinandersetzen. Die Ratsherren fühlten sich wie im falschen Film und der brave Ortega konnte den ausgefuchsten Kommissar nicht einmal ansatzweise ersetzen.
»Haben die Anschuldigungen, die gegen Santiago vorgebracht werden, überhaupt Hand und Fuß?«, schaltete sich der dritte Ratsherr ein, der bisher geschwiegen hatte.
»Guter Gedanke!«, sprang ihm sein aggressiver Kollege bei. »Wir veröffentlichen einfach eine Erklärung, in der wir die Vorwürfe als lächerlich bezeichnen. Sollen die Tschuden doch erst mal Beweise vorlegen! Sie können nicht erwarten, dass wir den Kommissar einfach so ausliefern.«
»Der Orden verfügt sicher über entsprechende Beweisstücke«, gab Ortega zu bedenken. »Sonst hätten sie sich nicht so weit aus dem Fenster gelehnt.«
»Dann muss man uns Gelegenheit geben, diese Beweise zu prüfen, und bis dahin steht der Kommissar unter dem Schutz des Dunklen Hofs!«
»Wo ist übrigens Santiago?«
Alle schauten Ortega an, genauer gesagt: Drei Kapuzen drehten sich in seine Richtung.
»Santiago befindet sich außerhalb der Verborgenen Stadt«, antwortete der Fürst für Ortega.
»Und wo?«
»Das wissen wir nicht.«
»Sehr praktisch«, kommentierte der zurückhaltende Ratsherr. »Aber können wir auch beweisen, dass wir nicht wissen, wo der Kommissar sich aufhält?«
»Wozu denn?«, kam der Fürst Ortega zuvor. »Wir spielen einfach auf Zeit, indem wir die Anschuldigungen des Ordens im Prinzip akzeptieren, aber auf die Einsetzung einer Untersuchungskommission bestehen.«
»Und wenn es dem Kommissar nicht gelingt, die Vorwürfe zu entkräften?«
»Dieser Fall wird nicht eintreten«, versicherte Ortega mit einem souveränen Lächeln. »Santiago hat die Lage ziemlich nüchtern analysiert und ist optimistisch, dass er das Problem in den Griff bekommt.«
»Dann ist diese Intrige also seine eigene?«
»Leider nein, aber der Kommissar wird mit Sicherheit eine Lösung finden.«
Sonderausgabe der Sendung Redefreiheit
Die Überwachungskamera hatte die Geschehnisse im Gastraum schonungslos aufgezeichnet. Man sah, wie die Menschen panisch zum Ausgang drängten, wie sie um sich schlugen und übereinanderfielen, wie sie verzweifelt versuchten, aus der
Weitere Kostenlose Bücher