Die Hexe
tödlichen Falle zu entkommen, in die sich die Schaukel verwandelt hatte. Der Film lief ohne Ton, doch an den grotesk verzerrten Gesichtern konnten die Fernsehzuschauer die beklemmende Todesangst der Clubgäste nachvollziehen. Nur verschwommen sah man die Ursache der Panik: ein bizarres Geschöpf mit Hörnern und dornenbewehrtem Schwanz, das wie ein Wirbelwind durch den Raum fegte. Das Monster bewegte sich so schnell, dass die Kamera kein scharfes Bild von ihm zustande brachte.
»Wir haben Ihnen diese Aufzeichnung bewusst unkommentiert gezeigt, meine Damen und Herren.« Die Regie schaltete zurück ins NTW -Studio und im Bild erschien das Gesicht des Moderators Slawik Toster, der betroffen in die Kamera guckte. »Die Videokassetten aus dem Nachtclub Schaukel wurden uns vor wenigen Stunden anonym zugespielt. Wir hielten es für unsere Pflicht, Ihnen diese unglaublichen Bilder zu zeigen.«
Slawik Tosters Stern am Fernsehhimmel war aufgegangen, kurz nachdem NTW in einem aufsehenerregenden Manöver von Gazprom übernommen worden war und die besten Journalisten den Sender verlassen hatten. Slawik sprach zwar nur mäßig gut russisch, doch seinem Drang nach Popularität tat dies keinen Abbruch. Mit seiner medialen Allgegenwart wurde er zu einer Art Gesicht des Senders und trat häufig in zeitkritischen Magazinen auf, für deren Qualität NTW in früheren Zeiten berühmt gewesen war.
»Nach reiflicher Überlegung haben wir uns entschieden, nicht den kompletten Mitschnitt zu zeigen – die Bilder sind einfach zu grauenvoll, meine Damen und Herren. Doch eine Szene, die aus einer anderen Perspektive gefilmt wurde, möchten wir Ihnen noch zeigen, ehe wir die Kassetten der Polizei übergeben.«
Die Kameraeinstellung zeigte die Bühne. Man sah eine schwarzhaarige Tänzerin, die mit Flaschen und Früchten beworfen wurde und entgeistert ins Publikum schaute. Man sah die Hinterköpfe der kurzgeschorenen Typen, die sich in vorderster Reihe drängten und der Stripperin an die Wäsche griffen. Was dann mit der Tänzerin geschah, ging so rasend schnell, dass die Kamera den Ablauf selbst nicht festhalten konnte, doch es bestand kein Zweifel daran, dass eine blitzartige Veränderung mit ihr vonstattengegangen war. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte sich die attraktive junge Frau in ein Monster verwandelt, das in einem Horrorstreifen hollywoodscher Prägung eine gute Figur gemacht hätte: kahler Kopf, dicke Augenbrauenwulste, unter denen glasige Augen gespenstisch leuchteten, eingefallene Nase, überlange, hervorstehende Eckzähne, wuchtige gekrümmte Hörner und ein dornenbewehrter, sich bedrohlich windender Schwanz.
Die Regie stoppte die Aufnahme, um dem Fernsehpublikum Gelegenheit zu geben, sich an dem bizarren Anblick sattzusehen.
»Was nach dieser Szene geschah, haben Sie in Auszügen ja bereits gesehen«, setzte Slawik fort. »Nach vorsichtigen Schätzungen der Polizei sind mindestens dreißig Menschen ums Leben gekommen. Ein Schock für die ganze Stadt! Aber was ist in der Schaukel eigentlich passiert? Wer ist dieses grauenvolle Monster? Die Polizei bleibt bislang eine Antwort schuldig, während in der Stadt wilde Gerüchte kursieren. Wir haben den bekannten Wissenschaftler Lew Serebrjanz gebeten, die Ereignisse zu kommentieren. Bitte, Lew Moisejewitsch, Sie haben das Wort.«
Die Kamera zoomte aus und links neben Toster erschien die schmächtige Gestalt des Professors.
»Zunächst möchte ich vorausschicken, dass mich diese furchtbare Tragödie zutiefst erschüttert«, begann Serebrjanz mit Grabesstimme. »Meine Gedanken in diesen Stunden sind bei all jenen, die Freunde und Verwandte verloren haben. Gleichzeitig möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass ich vor einem solchen Ereignis eindringlich gewarnt habe. Leider sind meine Warnungen ungehört verhallt. Ich war der einsame Rufer in der Wüste.«
»Wollen Sie damit sagen, dass Sie einen Anschlag in der Schaukel vorausgesehen haben?«
»Diese Katastrophe hätte sich überall ereignen können«, erwiderte der Professor kopfschüttelnd. »In jedem Theater, in jedem Einkaufszentrum oder einfach auf der Straße. Jederzeit. Schon seit Jahren weise ich daraufhin, dass in unserer Stadt Humanoide ihr Unwesen treiben! Bestialische, gnadenlose Monster! Aber die zuständigen Behörden haben immer nur abgewiegelt, sie haben die Augen vor der Wahrheit verschlossen und meine Warnungen in den Wind geschlagen. Ihre Fahrlässigkeit hat dieses Drama erst möglich
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