Die Hexen - Roman
glaube ich, dass Beliar – oder Corbeau, wie er sich mittlerweile nennt – ein Tor gefunden hat. Einen ähnlichen Durchgang wie den, durch den wir gekommen sind. Vielleicht sogar denselben. Anders ist es nicht zu erklären, dass er wusste, wen er vor sich hat, als er mich auf dem Platz vor der Kathedrale sah. Das war nicht der Marquis von damals, sondern der Doktor der Psychiatrie von heute.«
»Das würde bedeuten, dass er Helfer hat«, meinte Lucian. »Vielmehr eine Helferin, denn selbst der Mächtigste aller Dämonen ist nicht in der Lage, ein Zeittor aus eigener Kraft zu bedienen. Er braucht die Gabe einer Zauberin, wenn er Magie wirken will. Und er braucht Blut. Der Teufel besitzt keine eigene Macht.«
»Deshalb unterstützt die Marquise Beliar!« Plötzlich wurde Ravenna klar, worin die Beziehung zwischen Elinor und ihrem Mann bestand. Sie schüttelte sich. »Sie tritt an seiner Stelle auf den Plan, wenn er sich in … in der anderen Zeit befindet. Sie deckt ihn und ermöglicht es ihm, das Tor zu durchqueren.«
»Ich glaube kaum, dass sie ihm aus freien Stücken hilft«, wandte Lucian ein. »Jedes Mal, wenn man den magischen Strom unter den eigenen Willen zwingt, kostet es ein entsprechendes Maß an Kraft. Es ist ein Geben und Nehmen: Durch den Mord an ihrem Ehemann bekam Beliar Gewalt über Elinor. Damit hatte sie wohl nicht gerechnet. Cedrics Tod verlieh ihm genügend Kraft, um Burg Hœnkungsberg zu erobern und unseren Belagerungsring zu sprengen. Sobald er weitere Magie wirken will, wird es jedoch weitere Opfer geben.«
Ravenna zog das Laken bis unters Kinn. Die Wolldecke war vom Bett gerutscht, aber Lucians Körper strahlte genug Wärme ab für sie beide. »Du meinst … er fordert Menschenopfer?«, fragte sie leise. Schaudernd dachte sie an die knochigen Handgelenke und das ausgezehrte Gesicht der Marquise.
Lucian zuckte die Schultern. »Lämmer. Kälber. Ziegen. Manchmal auch ein besonders edles Pferd. Es gibt nichts, was nicht am Altar des Höllenfürsten geopfert wird, solange es atmet und Blut durch seine Adern fließt. Man nennt Beliar auch den Herrn der Ratten, weil die Gedärme der Opfer Ungeziefer anziehen.« Seine Stimme klang hart, als er das sagte, und sein Blick verriet, dass er dergleichen bereits gesehen hatte.
»Uuhh …« Ravenna verzog das Gesicht. »Wieso verbietet man das nicht?«
»Es ist verboten. Constantin bestraft jeden, bei dem er einen solchen Hausaltar findet, mit zwanzig Stockhieben auf die nackten Fußsohlen – so wie schon die Könige vor ihm. Und trotzdem gibt es immer wieder leichtsinnige Narren, bei denen wir Anzeichen für eine Teufelsbeschwörung entdecken.«
Nachdenklich schlang Ravenna die Finger um die Knie. Das also taten die Ritter, wenn sie landauf und landab durch Constantins Reich zogen: Sie hielten Ausschau nach dem Bösen.
»Und die Hexen?«, fragte sie.
Auch Lucian lehnte sich mit dem Rücken ans Kopfende des Bettgestells. Er rieb über die frisch verheilte Narbe. »Die Hexen lenken den magischen Strom und sorgen dafür, dass Beliar und seine Anhänger keinen Anteil daran erhalten. Genauso beharrlich versucht Beliar den Bannkreis der Sieben zu durchbrechen.«
Plötzlich setzte sich Ravenna kerzengerade auf. »Wir sollen doch nach dem Siegel des Sommers suchen«, sagte sie. »Hältst du es für möglich, dass Beliar – oder Corbeau – es in meine Welt gebracht hat? Vielleicht geht er davon aus, dass es hier vor dem Zugriff der Hexen sicher ist.« Keine der Sieben, nicht einmal die lebhafte Josce oder die strenge Nevere, konnte das Zeittor durchschreiten. Das konnte nur sie, weil sie Melisendes Erbin war.
Lucian nickte nachdenklich. »Das wäre denkbar«, murmelte er und Ravenna fröstelte, als sie plötzlich begriff, wie ein Puzzlestein zum anderen passte. Sie war tatsächlich die Einzige, die den Sieben helfen konnte. Eine von uns muss überleben …
»In diesem Fall wäre unser Sturz durch das Zeittor kein Zufall«, überlegte der Ritter. »Aber in magischen Dingen gibt es ohnehin keine Zufälle. Wisst Ihr denn, wo wir mit der Suche beginnen sollten?«
Ravenna nickte. »Ich hätte da eine Idee«, murmelte sie und schlang die Arme um sich. Lucian beugte sich aus dem Bett, hob die Decke auf und breitete sie über sie beide. Das Fenster in der kleinen Dachkammer stand offen. Die Gardine bewegte sich im Wind und in einem der benachbarten Gärten bellte ein Hund.
»Warum unternimmt Morrigan denn nichts dagegen?«, fragte Ravenna ihren Ritter
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