Die Hexen - Roman
verdammt glücklich.«
Weil ich Lucian getroffen habe. Weil er die Liebe meines Lebens ist, dachte Ravenna ohne einen Augenblick zu zögern. Und weil ich in vier Tagen mehr über mich gelernt habe als in den vergangenen vier Monaten bei Doktor Corbeau. Sie merkte, wie eine Woge von Gefühlen über sie hereinbrach. Plötzlich hatte sie Mühe, ruhig zu atmen. Sie kannte Lucian zwar erst seit ein paar Tagen, aber sie wusste es, sie brauchte ihn nur anzusehen. Er war der Richtige. Sie wollte nie wieder ohne ihn leben.
In diesem Augenblick klingelte es. »Ich werde dich in alle Einzelheiten einweihen, das verspreche ich«, schwor sie. »Und nun sei so gut, geh zu Lucian und bitte ihn, dass er aufhören soll, diese fürchterlichen, mittelalterlichen Schnulzen zu singen. Er soll im Schlafzimmer auf mich warten und keinen Mucks von sich geben, bis Gress wieder gegangen ist.«
Mit zwei, drei Handgriffen drehte sie das Haar locker im Nacken zusammen und fixierte es mit einem Haargummi. Kopfschüttelnd ging Yvonne zur Tür des Badezimmers. »Du hättest mir ruhig sagen können, dass du dich auch mit Ritualmagie beschäftigst, statt dich über mich und meine Freundinnen lustig zu machen.« Sie wirkte noch immer leicht beleidigt. »Dann wäre ich mir nicht ganz so blöd vorgekommen.«
Bitte, flehte Ravenna lautlos. Dann öffnete sie die Haustür.
Mit schweren Schritten schlurfte der Kommissar die Treppe herauf. Kein Wunder, dass Gress den Kerl nicht schnappt, der hier eingebrochen ist, dachte sie. Bei diesem Kampftempo.
»Kommissar! Guten Morgen, schön, Sie zu sehen. Kommen Sie doch herein. Wir haben gerade Kaffee gemacht.« Sie führte Gress in die Küche und setzte ihm klirrend die Tasse vor, die eigentlich für Lucian gedacht war. Der Kommissar bedankte sich höflich und musterte sie über den Rand seiner Brille. »Wie geht es Ihnen?«
»Gut.«
»Erinnern Sie sich daran, was in den letzten Tagen passiert ist?«
Ravenna biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Sie hatte beschlossen, bis in die letzte Konsequenz zu lügen. Besser, man hielt sie für eine Verrückte, als dass Gress auf Lucian stieß und Nachfragen stellte, die sie nicht beantworten konnte. Was würden die Behörden mit einem jungen Mann tun, der allem Anschein nach vom Himmel gefallen war? Keine Papiere, keine Identität, keine Spur eines früheren Lebens – Lucian besaß nichts, womit er seinen Anspruch, in der Gegenwart zu existieren, beweisen konnte. Ganz abgesehen davon, was passierte, wenn er den Mund aufmachte. Chrétien de Troyes. Du meine Güte. Sie wollte sich lieber nicht ausmalen, was geschah, wenn jemand auf ihren jungen Ritter aufmerksam wurde.
»Na schön.« Gress seufzte, zückte einen Stift und ließ die Mine einrasten, indem er das Ende des Kugelschreibers auf die Tischplatte drückte. »Fangen wir also ganz von vorne an. Ihre Schwester sagte aus, dass Sie zu Ihren Eltern gefahren sind, um ein paar Tage auszuspannen. Ist das richtig?«
Ravenna bejahte.
Nach und nach versuchte Gress, ihr zu entlocken, was seit ihrem Ausritt auf dem Odilienberg geschehen war. Sie antwortete einsilbig und versuchte, sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Sie war keine gute Lügnerin und Gress’ Fragen machten sie nervös. Bei den meisten Fragen zuckte sie nur die Achseln und sagte: »Ich erinnere mich nicht daran. Es ist weg.«
Irgendwann im Verlauf der Vernehmung tauchte Yvonne wieder in der Küche auf. Zu Ravennas Erleichterung wirkte sie völlig entspannt. Gut gelaunt plauderte sie mit Gress und umarmte Ravenna beiläufig, als sie zum Fenster ging, um zu zeigen, wie glücklich sie über das erneute Auftauchen ihrer Schwester war. Gress stellte auch ihr ein paar Fragen. Während sie antwortete, füllte er ein Formular aus.
»Dann tauchte Ravenna gestern Abend also völlig überraschend in der Wohnung auf?«
Yvonne nickte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie tauchte nicht einfach so auf. Sie war schon da, als ich heimkam.«
Gress schrieb fleißig mit. »War sie allein?«
Seltsam, dachte Ravenna, als sich der Raum plötzlich wie unter einem Vergrößerungsglas aufzublähen schien. Die Uhr über der Tür tickte lauter, als sie es je gehört hatte. Der Kühlschrank röhrte. Gress’ Stift knirschte auf dem Papier, so dass sie von dem Geräusch Kopfschmerzen bekam.
»Ja«, sagte Yvonne. »Ja, sie war allein.«
Die Küche schrumpfte wieder auf ein normales Maß zusammen. Ravenna atmete auf. Als Gress sie anblickte, gelang es
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