Die Hexen - Roman
schon von dem Baum lösen, als sie unter den Händen plötzlich ein warmes Rinnsal spürte. Licht strömte in den Furchen der Rinde. Ravenna keuchte. Zum ersten Mal spürte sie die Fließrichtung des magischen Stroms: Er verlief gleichzeitig von oben nach unten und umgekehrt. Die Magie drang in die Wurzeln der Esche ein und ließ die Blätter aufleuchten.
»Genug. Das reicht.« Lucian umfasste ihre Handgelenke und unterbrach den Kontakt zur Rinde. Kopfschüttelnd sah sie der junge Ritter an. »Ihr habt ein außergewöhnliches Talent, den Strom zu lenken. Bei Euch sieht es aus wie ein Kinderspiel, doch ich weiß, dass sich andere vergeblich in dieser Kunst versuchten. Setzt die Gabe nicht zu oft ein, denn das könnte Euch schwächen.«
Ravenna nickte. Sie fühlte sich seltsam benommen. Wie nach einer durchwachten Nacht war ihr schwindlig und sie war erschöpft und hellwach zugleich.
»Was tun wir jetzt?«, wollte Lucian wissen.
»Jetzt gehen wir eine Runde durch die Stadt«, erklärte Ravenna. »Vieles wird dich erschrecken, fürchte ich. Zunächst einmal: Niemand verehrt mehr irgendwelche Bäume.« Lucian wurde blass, doch dann nickte er. »Zweitens: Halte dich immer in meiner Nähe und versuche, dich ungefähr so zu benehmen wie ich. Ich will nicht, dass du irgendjemandem auffällst und die Leute Fragen stellen. Und drittens …«
»Mein Schwert. Ich weiß.« Der junge Ritter seufzte. »Hättet Ihr mir die Hosen genommen, käme ich mir weniger nackt vor. Wie soll ich Euch verteidigen, falls Euch jemand angreift?«
Ravenna schürzte die Lippen. »Mich wird niemand angreifen, glaub mir! Weder mit Waffen noch mit Magie. Nicht einmal Beliar wäre so dumm, etwas zu unternehmen. Überlege doch nur, welche Tarnung er sich für diese Welt zugelegt hat. Ein Psychotherapeut – ausgerechnet! Und dann auch wieder: wie passend.«
Sie schlenderte mit Lucian bis zum Beginn der kleinen Straße. »Bereit?«, fragte sie und er nickte.
Als Erstes führte sie ihn zur Dombauhütte. Die Werkhalle der Steinmetze lag auf einem großen, flachen Gelände in der Nähe des Flusses. Gerade wurden große Blöcke Buntsandstein von einem Laster geladen und im Hof gestapelt. Wasserspeier und Figurengruppen standen auf der Galerie und aus dem offenen Tor drang das Kreischen einer Steinsäge.
Als Ravenna eintrat, verstummte die Säge. »Sieh einer an! Unser Mädchen ist wieder da!«, rief Jacques, kaum dass er sie entdeckt hatte. Er und die anderen Steinmetze umringten sie, schüttelten ihr die Hand und wollten wissen, wie es ihr in der Zwischenzeit ergangen war.
»Von dir liest man aber abenteuerliche Sachen in der Zeitung«, murmelte der Vorarbeiter. Die staubige Mütze hatte er weit ins Genick geschoben. »Wir wussten gar nicht, dass bei dir eingebrochen wurde. Das hättest du uns aber sagen sollen. Sogar Monsieur Pascal tat es leid, dass er dich so angefahren hat.«
»Ach wirklich?« Hoffnung keimte in Ravenna auf. »Du meinst, ich könnte nochmal mit ihm reden, ob er mich vielleicht wieder einstellen würde, wenn … na ja, wenn alles ausgestanden ist?«
»Wir legen alle ein gutes Wort für dich ein«, versicherte Mirco. Der junge Steinmetz grinste. Er hatte die Ohrenschützer abgenommen und sie sich um den Hals gelegt. Die staubige Schutzbrille war in die Haare hochgeschoben. Sein Blick wanderte vielsagend zur Tür. »Vorher musst du uns allerdings verraten, wen du mitgebracht hast.«
Lucian war im Eingang stehen geblieben und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Als Ravenna ihn herbeiwinkte und als ihren Freund vorstellte, begrüßten ihn ihre Kollegen reihum. »Freut mich!«, rief Jacques und packte die dargebotene Hand. »Schön, dich kennenzulernen. Was machst du so?«
Diesmal zögerte Lucian einen Moment, ehe er antwortete. »Ich diene meinem König und dem Zirkel der Sieben geweihten Hexen.«
Ravenna zog den Kopf ein, als sie die ratlosen Gesichter ihrer Kollegen sah, aber dann rief Mirco in die Runde: »Was war das denn für ein Kauderwelsch? Hat das jemand verstanden?« Hilfesuchend sah sich der junge Steinmetz in der Runde um.
»Er sagte, dass er für die Sieben königlichen Zirkel arbeitet«, warf Ravenna hastig ein. Siedend heiß fiel ihr Josces Berührung ein und das dumpfe Druckgefühl, als sich ihre Ohren für die Sprache des Mittelalters öffneten. Offenbar war sie die Einzige, die Lucians Französisch verstand. Sie und Yvonne, die einige Semester lang alte Literatur studiert hatte.
»Die was?«, fragte
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