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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Winkelschleifer, die Bohrmaschinen und die Magnettafel in Augenschein nahm, an der zahlreiche Skizzen und Fotos hingen. Sie hatte ihn unterschätzt, stellte Ravenna fest, sie hatte nur seinen verträumten Blick gesehen und nicht geahnt, welcher Forscherdrang in ihm steckte.
    »Als wir die Trutzburg auf dem Hœnkungsberg bauten, wurde ein Windenknecht von einem mit Steinen beladenen Korb erschlagen«, erklärte er, während er das Rangieren des Gabelstaplers beobachtete. »Maschinen, wie sie in Eurer Zeit verwendet werden, scheinen mir weitaus sicherer.«
    Dem konnte Ravenna nicht widersprechen. Während ihrer Ausbildung hatte sie sich mit historischer Bautechnik beschäftigt. Unfälle auf mittelalterlichen Baustellen waren leider nicht selten. Viele Burgen, Befestigungsanlagen und Türme hatten eine hohe Zahl an Opfer gefordert, ehe sie ihre endgültigen Ausmaße erreicht hatten.
    »Das sieht wie ein Drache aus«, meinte Lucian und wies auf den Greifarm des Krans, der im Hof den Lastwagen entlud. Das oberste Gelenk hatte einen Zweig von der Kastanie abgerissen. Wie ein frecher, grüner Federbusch wippten die Blätter auf und ab.
    »Siehst du den Mann hinter der Scheibe?«, fragte Ravenna und zeigte auf den Kranführer. »So ist es mit allem, was du hier siehst. Hinter allem steckt der Mensch.«
    »Ja, aber die Idee stammt von den Drachen«, beharrte Lucian. Er ahmte den Gelenkarm nach, der unbehauene Steinblöcke ergriff und behutsam unter der Kastanie absetzte. »Es heißt, sie graben nach Schätzen und durchwühlen ganze Landstriche mit ihren Klauen. Eine echte Plage.«
    Zweifelnd sah Ravenna ihren Ritter an. »Es gibt doch gar keine Drachen«, meinte sie.
    Lucian zwinkerte und lachte. »Vier Tage im Mittelalter. Meint Ihr wirklich, Ihr hättet alles gesehen?«
    Wenigstens erschrickt er nicht vor dem Maschinenlärm, dachte Ravenna. Als sie sich von ihren Kollegen verabschiedete, musste sie versprechen, bald wiederzukommen. Jacques klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter.
    »Ich rede mit dem Chef«, versprach er. »Du wirst sehen, Ravenna, ein paar Tage noch, dann kletterst du wieder auf den Gerüsten herum und polierst den Engeln die Nase.«
    Den Vormittag über schlenderten sie durch die Stadt. Lucian zeigte sich beeindruckt von den elektrisch versenkbaren Pollern, dem unterirdischen Kanalsystem, den Oberleitungen und den Straßenbahnen. Ravennas Erläuterungen und ihre Hinweise auf Gefahrenquellen nahm er gelassen auf. »Wenn wir länger hierbleiben, werde ich vieles lernen müssen«, meinte er nur und blickte einer Frau in einem sehr kurzen Rock hinterher, die auf der Straße telefonierte. Lautstark zankte sie sich mit ihrem Freund.
    »Warum starrst du sie denn so an?«, zischte Ravenna.
    Lucian hob die Hand und berührte seine Stirn an der Stelle, an der das dritte Auge saß. »Sie ist eine Magierin. Sie streitet mit einem Geist.«
    Verblüfft drehte Ravenna sich um. Die Frau wedelte aufgeregt mit den Armen. Es sah aus, als ohrfeige sie die Luft. »Siehst du die kleinen Stöpsel, die in ihren Ohren stecken? Am anderen Ende der Leitung …«
    »Wo ist denn die Leitung?«
    Ravenna nahm einen tiefen Atemzug. Das mit den Strom führenden Drähten hatte Lucian offenbar begriffen. »Na ja, es gibt keine Leitung, es ist eine Funkverbindung. Das sind unsichtbare Wellen in der Luft.«
    »Unsichtbar. Also ein Geist«, stellte Lucian fest. Er wirkte höchst zufrieden.
    Seltsam, dass ihn der Sturz durch das Zeittor so kaltlässt, dachte Ravenna, während sie am Kanal entlanggingen. Sie erinnerte sich an ihre eigene Verzweiflung, nachdem sie in der Hexenwelt erwacht war. Dann fiel ihr ein, dass Lucian bereits im Alter von acht Jahren in Constantins Dienst getreten war und seitdem kein anderes Ziel verfolgt hatte, als einer der Gefährten zu werden. Und jetzt war er ihr eingeschworener Ritter, egal in welcher Welt.
    »Wie groß die Stadt geworden ist«, murmelte er, als sie auf den überdachten Brücken standen und ins Wasser hinunterblickten. Die Böschung, die Bäume und die angrenzenden Häuser spiegelten sich auf dem Fluss. Die Brücken wurden von mächtigen, quadratischen Türmen geschützt, denselben Türmen, an denen sie einen Tag zuvor im Morgengrauen den Wachmann bestochen hatten. Bei diesem Gedanken kroch Ravenna eine Gänsehaut über die Arme.
    »Und wie wenig von dem geblieben ist, was ich kannte«, seufzte Lucian. Er sah bedrückt aus. Vermutlich dachte er an seine Freunde, die sie während des Kampfes vor dem

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