Die Hexen - Roman
»Das ist Sachbeschädigung«, stellte er fest. »Und Freiheitsberaubung. Kommen Sie zur Besinnung, Ravenna, noch kann ich Ihnen helfen. Dann kommen Sie einigermaßen ungeschoren aus der Sache raus – anders als Ihr Freund hier, der sich eindeutig strafbar macht.«
Diesmal landete die Schwertspitze genau zwischen den Augen des Marquis. »Wo ist das Siegel?«
Beliars Mundwinkel zuckten. Er blickte Ravenna an. »Wissen Sie, dass Sie zu beneiden sind? Echte Liebe, Hingabe, Zuneigung – wo gibt es das noch auf der Welt? Wollen Sie diese Beziehung wirklich aufs Spiel setzen, nur weil Sie einem Hirngespinst nachjagen?«
»Melisendes Siegel«, sagte Ravenna, »ist keineswegs ein Hirngespinst, denn ich habe andere Ringe dieser Machart gesehen. Und ich weiß, wie man damit umgeht. Wo haben Sie den Schatz versteckt?«
Beliar stieß einen langgezogenen Atemzug aus und leckte sich über die Lippen. »Es ist nicht hier.«
Ravennas Herz machte einen Satz. Lucian verstärkte den Druck der Klinge, bis der Marquis den Kopf in den Nacken legen musste. »Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit«, knurrte er. »Doch es gibt einen Weg, um die Sache abzukürzen. Rechts oder links?« Die Schwertspitze streifte über Beliars Augenlider. »Vielleicht links zuerst, denn dieses Auge hast du Ramon beim Turnier genommen.«
»Nein«, sagte Ravenna hastig. »Nicht auf diese Weise. Es gibt einen besseren Weg, um ihn zu zwingen, die Wahrheit zu sagen.«
Der Marquis stieß einen gedehnten Seufzer aus, als Lucian das Schwert senkte. Auf jedem Augenlid war ein roter Strich zurückgeblieben, nicht breiter als ein Haar. »Sie lieben diesen Narren tatsächlich, Ravenna«, stellte er fest und klang wieder wie der Therapeut, der in seiner Villa von Einbrechern überrascht worden war und die Beherrschung nicht verlieren wollte. »Und Ihre Liebe wird erwidert. Wozu brauchen Sie da von mir noch eine Bestätigung? Wenn Sie jetzt gehen und das Siegel mir überlassen, wird Ihnen nichts weiter geschehen.«
»Schweig endlich!«, fauchte Lucian. »Begreifst du denn nicht, dass du nur noch am Leben bist, weil meine Herrin mit dir reden will?« Drohend hob er das Schwert. So wütend hatte Ravenna ihn noch nie erlebt. Mit zitternden Fingern holte sie die Rabenfeder aus der Umhängetasche, glättete die Fahne, fasste den Schaft mit beiden Händen und wendete sich zum Fenster um.
»Aeirincræft!«, rief sie.
Ein mächtiger Windstoß erhob sich, wirbelte Papiere von Beliars Schreibtisch und warf die Tür mit Wucht ins Schloss. Die Äste des kahlen Baums schlugen gegen die Scheiben und ein Schreck jagte durch Ravennas Körper. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Macht der Naturgewalt so unmittelbar zeigte. Sie hatte nur darauf vertraut, dass sie dieselbe magische Sprache benutzen konnte wie Yvonne. Behutsam legte sie die Feder in das übrig gebliebene Regal. Die Luft an dieser Stelle begann zu flimmern wie über einer erhitzten Landstraße und die toten Insekten im Glaskasten an der Wand schienen sich zu bewegen.
Beliars Lächeln war verschwunden. Hasserfüllt starrte er sie an. Seltsamerweise erleichterte sie dieser böse Blick, denn der Eindruck, dass sie Doktor Corvin Corbeau vor sich hatte, verschwand nun endlich ganz. Als nächstes nahm sie eine flache Schale aus Messing und stopfte eine Handvoll Distelwolle hinein. Wieder hob sie die Schale mit beiden Händen, doch diesmal drehte sie sich zur Wand.
»Fyrcræft!«
Sie flüsterte das Wort nur. Knisternd begann der Distelsamen zu brennen. Aus dem Nichts sprangen Flammen auf die Dochte der Kerzen, die in einem Kandelaber auf dem Schreibtisch steckten. Die magische Erscheinung im Zimmer, das Wabern und Flackern der Luft, verschmolz zu einem Halbkreis aus Lichtstäben. Sie waren transparent und doch undurchdringlich – wie Regenbogenfeuer lodernde Magie, die entstand, als sie den Bannkreis rief.
Beliar zerrte an den Fesseln und rutschte im Sessel hin und her. Ravenna atmete auf, denn nun schien sich das Blatt zu wenden. Lucian drehte sich mit ihr zur Tür, als sie eine Meeresschnecke aus der Tasche holte.
»Vatnarcræft!«
In den Bädern und in der Küche gingen die Wasserhähne an. Sie hörte das Plätschern und Rauschen durch die geschlossene Tür. Aus der Öffnung des Schneckengehäuses tröpfelte Salzwasser und floss nach und nach über den gesamten Schreibtisch.
Ravennas Kehle zog sich zusammen. Sie hatte noch nie einen Bannkreis geschlagen, sie hatte es immer nur bei andern gesehen: bei
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