Die Hexen - Roman
ein verfluchtes Zeittor womöglich, das war nicht die Art von Auskunft, die sie erhofft hatte. Sie war auf Stromdrähte, Kameras, eine Alarmanlage und einen wütenden Hausherrn gefasst gewesen, doch nun wurde ihr klar, dass sie auch mit magischen Fallen rechnen musste.
»Danke für die Warnung«, stieß sie hervor. »Aber wir werden trotzdem dorthin gehen. Uns bleibt gar nichts anderes übrig.« Sie warf einen Blick auf den Kalender, der neben dem Apothekenschrank hing. Die Sieben hatten Recht: Die Tage vergingen wie im Flug und die Mittsommernacht rückte immer näher.
»Dann lass mich wenigstens mitkommen.« Diesmal war aus Yvonnes Miene ernste Besorgnis zu lesen. »Ich könnte Corbeau ablenken, während ihr beide …«
»Nein. Auf keinen Fall.« Ravenna wusste nicht, weshalb sie das Angebot ablehnte. Yvonnes Vorschlag klang vernünftig, und zu dritt konnten sie sicherlich mehr ausrichten als sie und Lucian allein. Doch ein seltsames Gefühl beschlich sie, eine Ahnung, dass ihre Schwester nicht die ganze Wahrheit sagte.
In diesem Augenblick kehrte der junge Ritter in die Küche zurück, beide Hände voller Metallringe. »Was habt Ihr mit meinem Kettenhemd gemacht?«, wollte er wissen. »Als ich es eben anziehen wollte, ist es auseinandergefallen.«
Ravenna verzog das Gesicht. »Hast du schon einmal den Schnitt in deiner Seite begutachtet? Beliar hätte dich beinahe umgebracht. Ich musste die Ringe aufbiegen, um dir das Kettenhemd auszuziehen, aber das hat dir das Leben gerettet.«
Missmutig ließ Lucian die Reste der Panzerung auf den Tisch rasseln. »Dann ziehe ich wohl oder übel ungerüstet in den Kampf«, brummte er.
»Du hast dein Schwert und deinen Verstand«, versuchte Ravenna ihn aufzumuntern. »Ich glaube, das sollte genügen.«
Sie ging ins Bad, um die beiden grauen Mäntel zu holen. Das Blut war ausgewaschen, aber nun rochen die Gewänder wie Yvonnes Kleid: nach Wacholder und Teer. In dem Körbchen unter dem Waschbecken bewahrte Yvonne alles auf, was man für ein Ritual benötigte: Duftöle, Kristalle, Kerzen und eine Klangschale. Als Ravenna den Deckel hob, quollen Federn zuhauf heraus: ein Büschel weißer Daunen, dazu Rabenfedern, eine Adlerschwinge und die türkisblauen Handdecken des Eichelhähers. Ravenna wählte eine Krähenfeder aus, denn davon gab es ein ganzes Bündel. Yvonne würde es verschmerzen, wenn sie sich eine der Federn ausborgte.
Als sie die Daunen wieder in das Körbchen stopfte, streiften ihre Finger über harte Kanten. Überrascht schob sie die Federn auseinander, um zu sehen, was es war. Dann erstarrte sie zu Eis.
Auf dem Grund des Korbs lag ein Hexendolch.
Als sie in die Küche zurückkam, stand Yvonne am Herd und brühte eine zweite Tasse Tee auf. »Was ist los? Wächst mir Gras aus den Ohren oder warum starrst du mich so an?«, blaffte sie ihre Schwester an. Wortlos warf Ravenna den Dolch auf den Tisch. Er war schwer und klapperte beim Aufprall. Auch der Griff bestand aus Metall. Das Heft war mit magischen Zeichen bedeckt und die Klinge war scharf wie ein Rasiermesser.
»Was ist das?«
Yvonne öffnete den Kühlschrank, nahm eine Zitronenhälfte heraus und presste den Saft über ihrem Becher aus. »Es ist ein Dolch. Das sieht man doch. Seit wann schnüffelst du in meinen Sachen herum?«
»Ich habe nicht geschnüffelt«, entgegnete Ravenna. »Ich habe das Ding durch Zufall entdeckt. Wie kommt es in deinen Besitz?«
»Was geht dich das an?«, schnappte Yvonne. Sie blies auf den Tee und trank einen Schluck. »Und dein Ritter – warum starrt er mich so an?«
Mit verschränkten Armen lehnte Lucian in der Tür. »Beantwortet Ravennas Fragen«, sagte er. »Woher habt Ihr dieses Messer? Und was habt Ihr damit vor? Es ist ein Ritualdolch. Eine solche Waffe dürfen nur Eingeweihte tragen.«
Mit einem knallenden Geräusch setzte Yvonne den Becher ab. »Ich bin eingeweiht! Ich habe die Initiation zum ersten Grad des Hexen-Kults bestanden und zwar schon seit einer ganzen Weile. Ich beschäftige mich nämlich schon viel länger mit Magie als Ravenna, die wohl eher zufällig in die Geschichte hineingestolpert ist. Aber es war ja klar, dass sie diejenige ist, die auf echte Hexen trifft, eine richtige Ausbildung erhält und einem Kerl wie dir begegnet.«
»Yvonne!«, rief Ravenna entsetzt. Lucian runzelte die Stirn. »Wer hat Euch eingeweiht?«
Yvonnes Gesicht verzog sich zu einer zornigen Maske. »Da du aus einem magischen Zeitalter kommst, solltest du wissen, wann man ein
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