Die Hexen - Roman
Aveline und Josce, bei Nevere und Esmee. Und bei Yvonne. Ihre Finger zitterten, als sie zum Schluss den rauchigen Kristall hervorholte. Jetzt lag nur noch der Hexendolch in der Tasche, eingewickelt in ein Küchentuch. Sie hob den Quarz.
»Irðencræft!«
Der Stein in ihrer Hand vibrierte. Gleichzeitig wölbte sich der Boden unter ihren Füßen und sackte im nächsten Augenblick durch. Auf dem Schreibtisch rollte ein Füllfederhalter hin und her, ein Kasten fiel von der Wand und rutschte hinter das Regal. Ravenna hörte, wie der Glasdeckel zersplitterte. Gebannt sah sie zu, wie sich die Lichtstäbe zu einem Ring schlossen, der sie, Lucian und den Marquis umgab. Die Bannmagie wirkte wie eine Luftspiegelung über einem lodernden Feuer, wie Wasserwände, durch die sie die Einrichtungsgegenstände verzerrt und verschwommen wahrnahm.
Sie atmete durch. Es war geschafft, sie hatte einen Bannkreis um den Dämon geschlagen. Energisch drehte sie sich zu Beliar um. »Wo ist das Siegel?«
»Das wirst du nie erfahren, Hexe!«
Ravenna lachte überrascht, als sie diesen Wutausbruch vernahm. »Dann lässt du also endlich die Maske fallen? Das wurde aber auch Zeit.«
Sie hob beide Arme, wie sie es von den Sieben gesehen hatte. Plötzlich merkte sie, dass sie den Bannkreis formen konnte wie schillernden, bis zur Weißglut erhitzten Stahl. Langsam zog sie das Gebilde enger um Beliar. Der Marquis schwitzte. Ruckartig warf er sich in dem Sessel hin und her und knirschte hörbar mit den Zähnen.
»Zum letzten Mal«, drohte Ravenna. »Wo ist Melisendes Siegel? Es gehört mir. Ich bin ihre rechtmäßige Erbin.«
Ein Lachen barst aus dem Mund des Marquis hervor, eine Explosion aufgestauter Gefühle. »Haben die Sieben dir diesen Unsinn eingeredet? Du, die rechtmäßige Erbin? Nach siebenhundert Jahren? Hör zu, Ravenna: Das Siegel befindet sich an einem Ort, den nur Auserwählte erreichen können. Du und dein Ritter – ihr gehört nicht zu diesem Kreis. Ihr seid … nun, wie soll ich es sagen …«
»Sag es am besten gar nicht«, zischte Lucian, »denn wenn du meine Herrin beleidigst, werden es deine letzten Worte sein.«
Wie ein Rasiermesser ließ er die Schwertschneide vom Kehlkopf bis zum Kinn über Beliars Hals gleiten. Das magische Regenbogenlicht, das den Raum erfüllte, schillerte auf dem Stahl.
»Du hast ein hitziges Gemüt«, murmelte Beliar, während er über die Klinge hinweg nach Lucian schielte. »Du erinnerst mich an deinen Vater – dasselbe unerbittliche Auge und dieselbe unbeherrschte Hand.«
Lucian stieß einen Laut hervor, der wie ein überraschter, halb unterdrückter Schmerzschrei klang. Sein Schwert schnitt eine klaffende Wunde in Beliars Haut und der Teufel sog den Atem ein. Blut tröpfelte auf seinen Mantel.
»Ich bin nicht wie mein Vater!«, stieß der Ritter hervor. Seine Hand zitterte und um den Mund erschien ein harter und zugleich verletzter Zug. »Niemals, hörst du, niemals werde ich sein wie er – und wenn dir Velasco tausendmal meine Seele versprochen hätte! Ravenna hat mein Schwert geweiht und nicht einmal du konntest es verhin-«
»Eine Anfängerin, die selbst noch keine Weihen empfangen hat«, fiel Beliar ihm ins Wort. »Bist du sicher, dass du mich töten kannst?«
Aufgewühlt verfolgte Ravenna den Streit der beiden Männer. »Lucian, so kommen wir nicht weiter!«, rief sie. »Beliar soll aufstehen und uns zu dem Siegel führen – und zwar sofort.«
Mit den Fingerspitzen zog sie den magischen Bannkreis noch enger zusammen. Ein unerreichbarer Ort, zu dem nur Eingeweihte Zugang hatten … Ohne Beliars Hilfe würden sie das Versteck des Siegels kaum finden. Dann stutzte sie. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte sie, doch sie kam nicht gleich darauf, was es war. Beliar beobachtete sie mit einem wölfischen Blick und grinste. In seinen Augen zeigte sich ein unheilvolles Glühen und seine Fußspitze wippte auf und ab und zur Seite, auf und ab und zur Seite, auf, ab und …
Ravenna schrie auf. »Da! Siehst du, was er macht? Mit dem Fuß zeichnet er ein Pentagramm in die Luft!«
Lucian sprang zurück und schmetterte dem Marquis die Breitseite der Klinge gegen den Knöchel, aber da war es schon zu spät.
»Helcræft!«, rief Beliar und die Stricke, die seine Arme auf den Lehnen hielten, verwandelten sich in Schlangen. Er lachte laut, als er aufsprang. In seinen Fäusten wanden sich die schuppigen Leiber. Die Schlangen zischten, und nun erkannte Ravenna, dass das rote Licht in seinem Blick
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