Die Hexen - Roman
bevor sie zum zweiten Mal an diesem Tag den Türklopfer bediente. Die Schläge hallten durch die Villa. Vor Aufregung ballte sie die Fäuste und knüllte den Saum ihres Mantels zusammen. Schritte näherten sich der Tür. Corbeau steckte den Schlüssel ins Schloss und sperrte auf.
»Ravenna! Wie schön, dass Sie kommen konnten!« Der Therapeut lächelte, als er unter das Vordach trat, dasselbe gewinnende Lächeln, mit dem er sie immer zu den Sitzungen begrüßt hatte. Er trug einen langen, eleganten Hausmantel, eine Art Robe, die Ravenna noch nie an ihm gesehen hatte. Und er sah genauso aus wie Beliar.
»Treten Sie ein!« Er stieß die Tür ganz auf und trat zur Seite, um sie einzulassen. Im nächsten Augenblick fuhr leise eine Schwertklinge aus der Scheide. Lucian bog wie ein lautloser Schatten um die Hausecke, und die Spitze der Waffe bohrte sich unter Corbeaus Kinn.
»Keinen Laut – oder du stirbst!«, drohte der Ritter. »Nun geh voraus!«
Corbeau bewegte sich stockend, aber sein Lächeln verlor nichts von seiner Anziehungskraft, als er zurücktrat. »Wer ist das, Ravenna? Ich wusste gar nicht, dass Sie einen Freund haben. Ihr Verhältnis wäre doch ein lohnendes Gesprächsthema, meinen Sie nicht?«
»Wir sind mehr als Freunde. Und jetzt halten Sie den Mund«, warnte ihn Ravenna mit leiser Stimme. Sie schloss die Tür hinter sich. Lucian schlug die Kapuze des grauen Mantels zurück.
»Geh! Nun mach schon! Du weißt genau, wonach wir suchen«, befahl er. Mit der Klinge dirigierte er Corbeau durch die Eingangshalle und stieg dicht hinter ihm die Glastreppe hinauf.
»Rechts oder links?«, fragte Lucian über die Schulter, sobald er die Empore erreichte. Zu beiden Seiten zweigten Gänge ab, die jeweils an einer Terrassentür endeten. Ravenna wurde ganz schwindlig vor Aufregung, ihre feuchte Hand klebte am Geländer. Sie konnte kaum fassen, dass sie wirklich in die Villa ihres Therapeuten einbrach. Beliar sah so … normal aus, ein ganz gewöhnlicher Hausbesitzer aus ihrer Zeit, der mit einem Schwert bedroht wurde. Nur wenn sie in sein Gesicht blickte und das stählerne Glitzern in seinen Augen sah, wusste sie, dass sie das Richtige taten.
»Ravenna! Wohin jetzt?«, fragte Lucian wieder.
»Zum Therapiezimmer geht es da entlang.« Gönnerhaft deutete Corbeau in den linken Gang.
»Sie können aufhören, diese Rolle zu spielen«, fauchte Ravenna. »Wir wissen, wer Sie sind: Samiel, Arden und ganz ursprünglich Beliar. Ich glaube, ich werde Sie ab jetzt mit diesem Namen anreden, denn er passt eindeutig am besten zu Ihnen.«
Beliar wollte sich zu ihr umdrehen, doch dann röchelte er kurz, denn Lucians Klinge durchstach die Haut unter seinem Kinn. Ein Tropfen Blut rann am Schwert hinab. Das stumme Ringen sah seltsam aus, weil beide Männer moderne Kleidung trugen, doch an der Körperhaltung erkannte Ravenna die Gegner vom Turnierplatz wieder: zwei Raubtiere, gespannt zum Kampf.
»Ist das der Raum? Mach die Tür auf!«
Sie erschrak fast vor der kaltblütigen Bestimmtheit, die Lucian in diesen Minuten zeigte. Im Kampf wurde er zu einem anderen Mann. Seine Augen verengten sich und er atmete langsamer als sonst. Es war, als bündelte er seine ganze Kraft in dem Arm, mit dem er das Schwert führte.
»Setz dich!«, befahl er. Ravenna zog ein Seil aus der Tasche und fesselte Beliars Hände sorgfältig an die Lehnen des Ledersessels. Sie achtete darauf, dass der Marquis nicht einmal den kleinen Finger rühren konnte, und sie sah ihm die ganze Zeit über nicht ins Gesicht.
Gelassen schlug Beliar die Beine übereinander, wie zum Beginn jeder Therapiesitzung. Seine Fußspitze wippte. »Und wie soll es nun weitergehen?«, fragte er. »Wollen Sie mich ausrauben? Hören Sie, Ravenna, Sie sind schwer krank. Ihre Auffassung der Wirklichkeit ist gestört. Sie halten sich für übermächtig, sind eine Verfechterin des magischen Denkens. Das ist nicht normal. Wenn Ihr Freund dieses Schwert weglegt und mich losbindet, wollen wir die Sache auf sich beruhen lassen und zur Behandlung Ihrer Symptome übergehen.«
»Wo ist das Siegel?«
Beliar hob die Augenbrauen. »Wie bitte?« Dann zuckte er zusammen, denn Lucian begann, das Regal mit dem Schwert auszuräumen. Er fegte alles von den Brettern, was nicht festgeschraubt war. Bücher, Patientenakten und ein Barometer landeten unsanft auf dem Teppich. Zuletzt warf er das Regal um, doch dahinter kamen weder ein Tresor noch ein Geheimfach zum Vorschein.
Beliars Lächeln wurde dünner.
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