Die Hexen - Roman
den anderen Gefährten ging er auch in die Lehre, so wie jeder junge Mann auf Constantins Burg. Zufrieden?«
»Ja«, sagte Ravenna und atmete auf. »Danke.« Sie wusste, dass sie nun in dem fernen, finsteren Verlies, in dem ihr Körper lag und träumte, besser schlafen konnte.
Marvin folgte ihr kopfschüttelnd, während sie die Wanderung entlang der Mauer wieder aufnahm. »Du scheinst ihn wirklich zu mögen, deinen Ritter«, bemerkte er, während er mit der Stiefelspitze Kiesel ins Unterholz schoss. »Bei Gelegenheit solltest du ihn einmal nach seiner Vergangenheit fragen. Es ist nämlich so, dass er die Ausbildung schon in sehr jungen Jahren abschloss. Lucian war kaum siebzehn, als er zum ersten Mal siegreich aus einem Turnier hervorging.«
Ravenna fuhr herum. »Er hat schon einmal ein Turnier gewonnen? Warum das denn?«
Marvin grinste. Im Sonnenlicht, das durch das Blätterdach fiel, glänzte sein Haar wie Kupferdraht. Eine Strähne fiel ihm verwegen über das Auge.
»Wegen Maeve«, sagte er nur.
»Marvin!«
Es war Viviale, die kurzatmig über die Wiese geeilt kam. Der Späher murmelte einen Fluch und wurde blass. Das Gesicht der kleinen, untersetzten Magierin glänzte wie ein Winterapfel und das nicht nur, weil sie schnell gelaufen war: Viviale schien außerordentlich wütend zu sein.
»Konntest du dein Schandmaul nicht halten?«, zischte sie. »Mir scheint, deine Herrin hat versäumt, dich zu lehren, wann Schweigen geboten ist.«
Aufbegehrend riss sich der rote Ritter die Kappe vom Kopf. »Ich weiß sehr wohl, wann es Zeit ist zu reden und zu schweigen. Ich sage nur die Wahrheit: Lucian liebte Maeve mit jeder Faser seines Herzens. Und wenn mich nicht alles täuscht, liebt er sie immer noch. Warum soll Ravenna nicht erfahren, dass ihr Ritter eine Vergangenheit hat?«
Zornig runzelte Viviale die Stirn. »Es ist nicht deine Aufgabe, die Wahrheit zu verbreiten, mein Freund. Siehst du nicht, was du damit anrichtest? Ravenna braucht jetzt allen Mut und alle Zuversicht, um den Weg des Schicksals fortzusetzen! Doch du verunsicherst sie und treibst einen Keil zwischen sie und ihren Gefährten. Zur Strafe belege ich dich …«
»Nein!« Hastig wich Marvin zurück.
»… mit einem Bann, der dich …«
»Nein!« Der Späher stolperte beinah über seine eigenen Füße. »Nun komm schon, es war doch nicht böse gemeint. Nur ein kleiner Hinweis. Irgendwann wäre sie selbst auf die Sache gestoßen. Schließlich ist sie nicht dumm.«
»Eben«, sagte Viviale trocken. »Sie wäre von selbst darauf gekommen und nicht durch deine Hilfe – darin liegt ein großer Unterschied. Vielleicht hätte Lucian ihr die Geschichte eines Tages erzählt. Jetzt hast du ihm diese Möglichkeit genommen. Deshalb belege ich dich mit einem Bann, der dich das Schweigen lehrt. Bis die beiden in unsere Welt zurückkehren, soll kein Wort mehr über deine Lippen kommen.«
Sie führte eine entschiedene Handbewegung aus und Marvins Stimme erstarb. So sehr er auch zappelte und mit den Augen rollte, sich mit dem Finger über die Lippen fuhr und seine Kehle rieb: Es kam kein Ton mehr aus seinem Mund. »Ein leidiges Schicksal für einen Barden«, meinte Viviale, die seine Versuche, sich zu beschweren, ungerührt beobachtete. »Denn wie willst du Constantin erklären, dass du nicht mehr singen kannst?«
Wütend trat Marvin gegen einen Stein. Offenbar verstauchte er sich den Zeh, denn er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, ehe er durch das Laub davonhumpelte. Viviale blickte ihm nach. »Das wird ihm hoffentlich eine Lehre sein«, seufzte sie. »Obwohl, so recht glaube ich nicht daran. Füchse und Barden sind unbelehrbar.«
»Ich hätte wirklich gerne gehört, was er zu sagen hatte«, murrte Ravenna. »Maeve – was für ein hübscher Name. Sicher ist sie auch ein hübsches Mädchen.«
Die Zauberin musterte sie streng. »Alles zu seiner Zeit«, mahnte sie. »Glaub bitte nicht, dass Lucian unaufrichtig zu dir ist. Damit würdest du ihm Unrecht tun. Wenn er soweit ist, wird er dir sicher erzählen, was ihn in jungen Jahren in Constantins Burg führte und weshalb er und Maeve nie ein Paar wurden. Jetzt wird es Zeit für das Siegel von Mabon.«
Auf der flachen Hand streckte sie Ravenna den Ring entgegen. Als Symbol zeigte das Siegel einen keltischen Knoten, der zu einem Kreis geschlungen war. In der Mitte lagen mehrere Windungen übereinander, so dass sie geometrische Formen bildeten.
»Was ist das?«, fragte Ravenna. »Ein Amulett der Schatten?«
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