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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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lief dunkel an. »Was wollen Sie wissen?«, fragte er unwirsch.
    Rasch blätterte Yvonne das Tagebuch auf. »Mich interessiert vor allem, wo Ihre Fischteiche liegen.« Der Forellenzüchter gab ihr eine Beschreibung und sah misstrauisch zu, wie sie den Abschnitt des Kanals skizzierte. »Und das schreiben Sie also über uns?«, brummte er, als Yvonne das Buch zuschnappen ließ. »Wo unsere Zuchtbecken liegen? Ein komischer Artikel wird das.«
    »Warten Sie’s ab!«, erwiderte sie. Im Fortgehen ließ sie den Finger über den glitschigen, gebogenen Leib der Forelle gleiten, die auf der Waage lag, und murmelte: »Rottyanir!« Sie erschrak, als sie spürte, wie die Macht von ihrem Scheitel über Schulter und Arm in den toten Fischleib drang, ein glühender Nadelstoß. Vor ihrem geistigen Auge blitzten Bilder auf, die ihr zeigten, wie die Ware des Händlers verfaulte und schleimige Algen seine Teiche überwucherten. Zuletzt sah sie den Mann, der in einen modrigen, schwarzen Tümpel starrte, und sie wusste instinktiv, dass er nur noch einen Schritt von dieser Unterwelt entfernt war. Sie sog den Atem ein. Binnen weniger Schritte hatte sie genügend Abstand zwischen sich und den Stand gebracht und die Vision brach ab. Sie spürte den Drang, den Fluch zurückzunehmen oder wenigstens abzuschwächen, doch das war unmöglich. Magische Handlungen ließen sich nicht mehr zurücknehmen, sobald sie einmal geschehen waren.
    Du musst besser Acht geben!, ermahnte Yvonne sich, während sie den Markt mit raschen Schritten verließ. Seit der Begegnung mit jener umfassenden Macht, die die Bibliothek in Brand gesetzt hatte, war etwas mit ihr geschehen. Ein Schleusentor hatte sich geöffnet und nun durchströmte die Gabe sie mit einer Stärke, die alle früheren Erfahrungen verblassen ließ. Sie war von einer rastlosen, dunklen Energie erfüllt, die Dinge möglich machte, die noch vor wenigen Tagen undenkbar schienen.
    Zielstrebig verließ sie die Altstadt. Hinter der Ringstraße gab es einen einsamen Wegabschnitt, der sich im Mittelalter außerhalb der Stadtmauern befunden hatte. Der mit Gras bewachsene Damm, der den Kanal einfasste, zog sich bis zum Hafen, und es dauerte eine ganze Weile, ehe sie die Strecke abgesucht hatte.
    Sie entdeckte Lucian unter einer Brücke. In den Mantel gehüllt, kauerte er auf den Fersen und streckte die Schwertscheide nach einem Entenpärchen aus. Was er damit bezweckte, wurde ihr erst klar, als sie näher kam und erkannte, dass er nach einem aufgeweichten Stück Brot angelte, das zwischen den Vögeln trieb. Stromabwärts lenkte er es ans Ufer, presste das Wasser aus der aufgequollenen Masse und wollte gerade hungrig hineinbeißen, als er Yvonne entdeckte.
    Hastig sprang er auf. Die Enten flogen schnatternd übers Wasser davon. Yvonne blieb stehen.
    »Was wollt Ihr von mir, Hexe?«, rief Lucian und streckte ihr das Schwert entgegen. »Wie habt Ihr mich gefunden? Genügt es Euch nicht, dass Ihr Eure Schwester ins Unglück gestürzt habt? Wollt Ihr mich nun auch noch verderben?«
    »Ich wollte nicht, dass Ravenna in Schwierigkeiten gerät«, entgegnete Yvonne, während sie vorsichtig auf Abstand blieb. »Gress hat mich ziemlich unter Druck gesetzt. Was hätte ich denn machen sollen? Ihm das Kleid nicht geben? Er hätte es sowieso gefunden. Ihr wart kaum weg, da stand der Kommissar mit einer ganzen Mannschaft vor der Tür. Und mit einem Durchsuchungsbeschluss.«
    »Ihr hättet bei der Wahrheit bleiben können«, bemerkte Lucian trocken. »Aber für Vorwürfe ist es jetzt wohl zu spät. Wisst Ihr, wo Ravenna festgehalten wird?«
    In angespannter Haltung kam er auf sie zu. Daran erkannte Yvonne, wie verzweifelt er sein musste. Sie wusste, dass er sie nicht mochte und sie für eine Verräterin hielt. Aber er hatte Straßburg nicht verlassen, was in seiner Lage weitaus schlauer gewesen wäre. Stattdessen hauste er wie ein Stadtstreicher unter einer Brücke, ernährte sich von Abfällen und wartete auf ein Zeichen. Oder auf ein Wunder.
    »Ich weiß, wo Ravenna ist«, bestätigte sie. »Aber im Augenblick können wir nichts für sie tun.«
    Lucians Schultern sanken herab. Er starrte sie an und sie begriff, weshalb die Marktfrau Mitleid für ihn empfunden hatte. Er war hohlwangig und abgemagert. Dunkle Bartstoppeln bedeckten Kinn und Oberlippe und er sah aus, als habe er seit Tagen kaum geschlafen. Was vermutlich den Tatsachen entspricht, dachte Yvonne.
    »Ich mache dir ein Angebot«, rief sie dem Ritter zu. »Wir

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