Die Hexen - Roman
konnte gar nichts tun, außer auf dem Rücken zu liegen und Löcher in die Dunkelheit zu starren. Stundenlang. Tagelang. Und wenn nicht irgendein Wunder geschah, für den Rest ihres Lebens.
Am Kanal
Für gewöhnlich gab Yvonne nicht viel auf Gerüchte, denn Straßburg war voll davon und in den meisten Fällen lohnte es sich kaum, den Wahrheitsgehalt des Geredes zu überprüfen. Die Geschichten jedoch, dass in den Gassen der Altstadt in letzter Zeit ein geheimnisvoller, junger Mann in einem grauen Umhang auftauchte, sammelte sie mit Leidenschaft und notierte jede Einzelheit in ihrem Tagebuch.
»Ich habe dem Ärmsten ein paar Pfirsiche geschenkt«, erinnerte sich eine Marktfrau. »Irgendwie tat er mir leid, obwohl ich fast zu Tode erschrak, als er plötzlich hinter mir stand.« Verschwörerisch beugte sie sich zu Yvonne. »Ich würde meine Hand darauf verwetten, dass er unter dem Mantel einen Säbel trug. Aber das werden Sie doch nicht in Ihrem Artikel schreiben, nicht wahr? Sonst denkt noch jemand, ich wäre verrückt.«
»Nein, keine Sorge. Und vielen Dank nochmal.« Yvonne lächelte und ließ Buch und Stift in ihre Tasche gleiten. Langsam schlenderte sie weiter. Der Wochenmarkt, auf dem Stapel von Früchten und Gemüse, Würste, Schinken und riesige Käselaibe feilgeboten wurden, war der ideale Ort, um Nachforschungen anzustellen. Das Schicksal ihrer Schwester hatte hier die Runde gemacht, ebenso die Spekulationen darüber, was den verheerenden Brand der Bibliothek ausgelöst hatte.
Mit einem unbehaglichen Gefühl mied Yvonne die Grüppchen, in denen über das Unglück diskutiert wurde. Sie wusste nur zu gut, was das Feuer entfacht hatte: eine gewaltige, allumfassende Macht. Wie ein Sog hatte diese Macht sie ans Fenster gerufen und ihr befohlen, die Gewalt der Blitze zu entfesseln. Trotz des sonnigen Tages schauderte sie. Es war, als ob Beliar die ganze Zeit über hinter ihr stand. Seit dem Abend auf dem Boot war er ein Schatten, der an ihren Fersen haftete, die Stimme in ihrem Kopf, der Wille in ihren Gedanken, der sie zwang, Dinge zu tun, die sie nicht für möglich gehalten hatte. Anfangs hatte sie versucht, den dunklen Fleck aus ihrem Bewusstsein zu verbannen, ihn auszuradieren und zu verdrängen. Doch es gelang ihr nicht, und mit der Zeit gewöhnte sie sich sogar an die Angst, die manche Erinnerungen in ihr auslösten.
An einem Bäckerstand erstand sie einen Kringel aus Nuss und Schokolade und knabberte gedankenverloren an dem Gebäck. Ein Stück weiter boten Forellenverkäufer ihre Ware in schlammgrünen Bassins feil. Sie zeigten den Kunden lebende Fische, damit die Einkäufer die Größe festlegen konnten, und töteten die Tiere dann mit einem gezielten Hieb auf den Kopf.
»Der Kerl ist ein Landstreicher, ganz sicher. Der hat am Kanal nichts zu suchen. Würde mich nicht wundern, wenn den mal einer ins Wasser stößt, so ganz aus Versehen.«
»Am Hafen treiben sich ziemlich viele Irre rum, aber so einer wie der hat uns gerade noch gefehlt. Macht bloß die Bootseigner und die Fische nervös«, sagte der zweite Mann, der die erschlaffte Forelle ausnahm, das Blut abspülte und den schillernden Leib in Wachspapier und alte Zeitungsseiten wickelte. Anschließend ließ er das Paket in die Einkaufstasche des Kunden gleiten. »Und was bekommen Sie?«
»Danke, ich habe schon«, sagte Yvonne mit vollem Mund und hob den Nusskringel. »Wo genau betreiben Sie eigentlich Ihre Fischzucht?«
Der Forellenverkäufer starrte sie mit gefurchter Stirn an. »Wer will das denn wissen?«
»Ich schreibe fürs Wochenblatt«, behauptete Yvonne und deutete auf die nassgetropfte Zeitung, die neben der Blechkasse lag. Unter demselben Vorwand hatte sie auch die anderen Standbetreiber ausgehorcht. »In der nächsten Ausgabe bringen wir eine Sonderbeilage über den Markt.«
»Ach was. Das höre ich zum ersten Mal.« Der Fischzüchter schien noch immer nicht überzeugt. Er musterte sie, während sie sich die Schokolade von den Fingern leckte und das Notizbuch aus der Tasche kramte. Sein Kollege bediente unterdessen den nächsten Kunden. »Haben Sie denn einen Presseausweis? Da könnte doch sonst jeder kommen.«
Yvonne ließ sich nicht beirren. Mit dem Stift strich sie das Haar hinter das Ohr und lächelte. »Haben Sie etwas zu verbergen?«, fragte sie zurück. »Giftstoffe im Wasser, unerlaubte Futterzusätze? Oder vertreiben Sie geschützte Vogelarten, um mehr Profit zu machen? Wenn es nämlich so ist …«
Der Fischhändler
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