Die Hexen - Roman
Ich habe meine magische Gabe gepflegt und mich mit den alten Traditionen beschäftigt. Ich habe es verdient, dass ihr mich in den Konvent aufnehmt und ausbildet. Das ist nicht zu viel verlangt.« Sie trug ihre Forderung mit großer Sanftheit vor und es wurde still im Saal.
»Du stehst noch immer unter Anklage«, erinnerte Norani sie. »An deiner Stelle würde ich mir erst dann über eine Aufnahme in den Konvent Gedanken machen, wenn meine Unschuld bewiesen ist.«
Entschlossen wandte Josce sich an den König. »Lucian hat die Anschuldigungen gegen Yvonne erhoben. Er soll vor dem Hexengericht aussagen und dann werden wir eine Entscheidung fällen.« Auffordernd sah sie den jungen Ritter an.
Auch Yvonne drehte sich zu Lucian um. Ihre Hand bedeckte den Ausschnitt, ihre Finger spielten mit dem Medaillon, dessen Silberdeckel verkratzt und stumpf angelaufen war. »Ja, Lucian soll aussagen«, willigte sie zu Ravennas Überraschung ein. »Schließlich war er dabei, als wir in der Bibliothek nach einem Hinweis auf Melisendes Siegel suchten. Beschreib deinen Freunden doch, was du dort erlebt hast!«
Lucians Blick heftete sich auf sie, während er aufstand. »Es ist ein Palast mit vielen Glasfenstern und magisch schwebenden Aufzügen. Niemand wohnt darin, obwohl das Gebäude riesig ist, und dennoch begegnet man vielen Menschen, wenn man durch die Halle geht. Dort gab es unzählig viele Bücher und ich habe den Pilger gesehen.«
Ein Aufstöhnen ging durch die Reihen der anderen Ritter. Vernon, der neben der Tür stand, vollführte eine schützende Handbewegung. »Den Pilger? Angeblich sieht man ihn nur, wenn man am Rande des Todes steht«, stieß er hervor.
»Ja, so war es auch«, brummte Lucian. »Wir waren von den Flammen eingeschlossen und der Rauch drohte uns zu ersticken. Da erschien der Pilger und half uns, dem Brand zu entkommen.«
»Ein Brand?« Hellhörig beugte Constantin sich vor. »Es gab einen Brand in der Bibliothek?«
»Wegen des Gewitters«, sagte Lucian. Hilfesuchend wandte er sich an Yvonne. »Nicht wahr? Die roten Kobolde erschienen wegen des Gewitters.«
Sie nickte. »Erzähl deinen Freunden auch, wie wir nach dem Siegel suchten«, warf sie ein. »Und wie ich euch geholfen habe, es zu finden. Das habe ich doch, nicht wahr?«
»Moment mal!«, wandte Ravenna ein. »Ganz so war es nicht! Die roten Blitze erschienen, weil …«
Zischend legte Norani ihr die Hand auf den Arm. »Du musst schweigen, Ravenna! Du darfst dich nicht einmischen. Du bist blutsverwandt mit der Angeklagten und darfst hier nicht gehört werden.«
»Aber …«
Warnend hob die junge Hexe einen Finger. »Halte dich zurück oder du wirst des Saales verwiesen.«
Ravenna nagte an der Unterlippe. Es passte ihr ganz und gar nicht, dass sie sich nicht einmischen durfte. Es war offensichtlich, dass Yvonne sich auf diese Begegnung vorbereitet hatte. Sie kannte ihre Schwester gut genug, um zu spüren, dass Yvonne etwas im Schilde führte. Doch was?
»Ja, Ihr habt uns geholfen«, bestätigte Lucian nun. »Aber dann … da war noch etwas. Ich erinnere mich verschwommen.«
»Der Dolch«, half Yvonne sanft nach. »Mein Hexendolch, der im Bad lag. Ravenna hatte ihn entdeckt.«
Mit einem dankbaren Lächeln blickte Lucian sie an. Was geht denn hier ab?, dachte Ravenna. Sie starrte ihren Ritter an. Wie ein dressierter Welpe ließ Lucian sich von ihrer Schwester vorführen. Wo war der zornige Krieger, der Yvonne wegen schwarzmagischer Umtriebe verhaftet hatte und darauf bestand, dass sie sich vor dem König verantwortete? Lucian stammelte, er wirkte fahrig und zerstreut und konnte sich an keine Einzelheiten mehr erinnern.
»Wo ist dieser Dolch?«, wollte Constantin wissen. »Er soll als Beweis vorgelegt werden. Wenn damit Blut vergossen wurde, werden wir es herausfinden. Die Taten, die man mit einer magischen Waffe begeht, sind für immer in der Klinge eingeschlossen.«
Yvonne lächelte, sie schien völlig unbeeindruckt von den Anschuldigungen. »Die Polizei hat ihn beschlagnahmt. Er blieb in meiner Zeit zurück. Doch vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit, meine Unschuld zu beweisen. Nimm meine Hand!«, forderte sie Lucian auf und streckte den linken Arm aus. Zögernd umfasste er ihre Finger. »Halte sie und sag uns, was du spürst, wenn ich schwöre, dass ich niemals schädliche Magie angewendet habe.«
Der Ritter schloss die Augen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nichts. Da ist nichts. Nicht einmal ihr Puls wird schneller. Wenn sie
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