Die Hexen - Roman
fühlte sich nicht verflucht. Sie war aufgewühlt, durcheinander und furchtbar erschrocken wegen des Überfalls, der den Innenhof binnen weniger Minuten in ein Schlachtfeld verwandelt hatte. Aber sie war definitiv nicht verflucht. »Lass mich in Ruhe«, sagte sie.
»Weiche!«, brüllte der Mann. »Kraft meines Amtes als Beschwörer und Hexenbanner, welches mir die Bürger der freien Stadt Straßburg verliehen haben, verbanne ich dich dorthin zurück, woher du gekommen bist!«
Wider Willen musste Ravenna lachen. »Verdammt, ich komme aus Straßburg«, erklärte sie. »Wissen das deine Auftraggeber eigentlich?«
Die Augen des Mannes weiteten sich. Er hob den Stab noch ein Stück. Das Licht, das plötzlich aus dem Pentagramm strahlte, blendete sie.
»Achtung!«, schrie Norani, doch Ravenna hörte die Stimme nur schwach und verzerrt durch das Brausen, das ihre Ohren erfüllte. Eine Sekunde später schoss ein Schmerz durch ihre rechte Hand, der ihr beinahe das Bewusstsein raubte. Ihre Handflächen brannten, als hätte man einen glühenden Eisenstab hindurchgetrieben. Die Macht der Sieben floss durch sie, der magische Strom, der von Siegel zu Siegel weitergegeben wurde. An beiden Händen spürte Ravenna, wie die Windrosen sich drehten.
Norani griff in ein Säckchen, das an ihrem Gürtel hing und warf eine Handvoll Sand in die Luft. Sofort wurde der Wüstenstaub von dem magischen Wirbel erfasst, der die Hexen verband, und nun konnte Ravenna den Strom sogar mit bloßem Auge sehen: Ein breites, wogendes Band, das von einer Magierin zur anderen floss. Rötlicher Staub umhüllte den Strudel.
Aus den Gebäuden im Hintergrund ertönte Getrampel und Geschrei. Es klang, als würden Truhen von den Treppen hinuntergestürzt. Irgendwo zersplitterte Glas. Mit gezogenen Schwertern bildeten Constantins Streiter einen Kreis um den Hexenzirkel. Von allen Seiten schoben sich die Feinde heran, eine Masse aus verzerrten Gesichtern, regennassen Umhängen, glitzerndem Metall und qualmenden Fackeln. Lucian erhielt Rückendeckung von seinen Freunden, während er gleichzeitig Ramon gegen Hiebe abschirmte, die der Einäugige nicht kommen sah. Dennoch kamen die Feinde immer näher.
»Wollen wir doch mal sehen, welches von Beliars Geschöpfen in den guten Mann gefahren ist!«, murmelte Norani gefährlich leise. Sie fing an, einen rhythmischen Bann zu murmeln, wobei jedes zweite Wort von einem kräftigen Stampfen der Hexen begleitet wurde. »Stahl zu Stahl und Stock zu Stock, Kelch zu Kelch und Gold zu Gold!« Die anderen Magierinnen fielen in die Beschwörungsformel ein. Ravenna lief eine Gänsehaut über den Rücken, als sie sah, wie sich der Hexenbanner krümmte.
»Blut zu Blut und Staub zu Staub!«, brüllte Norani. Auf ihr Zeichen hin rissen alle Hexen die Arme in die Höhe. Der Sand schwirrte empor und schwebte als blasser Wirbel über den Köpfen. Ein magischer Wind zerrte an Ravennas Kleidern.
Als der Hexenbanner wie von einem Krampf geschüttelt in die Höhe fuhr, schrak sie zurück und hätte beinahe Mavelles Hand losgelassen. Der Mann warf den Kopf in den Nacken und beugte sich dann lautlos nach vorn. Aus seinem Mund rieselte hellgelber Sand. Eine Menge Sand, viel mehr, als einem gesunden Erwachsenen zuträglich war. Dann stürzte er zu Boden.
Ravenna musste zweimal blinzeln, als sie sah, wie sich aus dem Staub Gliedmaßen und Gesichtszüge formten. Die Kreatur, die sich nun in der Mitte des Kreises erhob, erinnerte sie an eine Kreuzung zwischen einem Affen und einer Ziege. Auf dem Rücken entfalteten sich stumpfe Flügel, ein Schwanz mit einer langen Quaste fegte über den Boden. Der Dämon war nackt und in seinen Augen glühte ein rotes Licht.
Zum ersten Mal geriet der Ansturm der Feinde ins Stocken. Einige der Städter schrien auf und hielten die Hände vor die Augen. Die Bauern aus dem Flusstal machten kehrt und versuchten zum Tor zu fliehen, aber sie kamen nicht durch die dichten Reihen der Angreifer. Wenn Mavelle und Norani sie nicht so fest an den Händen gefasst hätten, hätte Ravenna vermutlich ebenfalls einen vernünftigen Abstand zwischen sich und den Staubteufel gebracht. Aber die anderen Hexen hielten sie fest und so musste sie im Kreis bleiben.
»Afarit«, seufzte Norani. »Hattest du nach unserer letzten Begegnung nicht die Nase voll von mir und meinen Bannsprüchen?«
Wie ein aufzuckender Schatten sprang der Dämon sie an. Es ging so schnell, dass Ravenna warnend aufschrie, doch da war es schon geschehen. Die
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