Die Hexen - Roman
Augenaufschlag. »Ich dachte, alle wollten nur Lucians Zeugenaussage hören.«
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?«, schrie Ravenna sie wütend an. »Die Sieben sind unsere Freunde. Wenn wir nicht gemeinsam auf derselben Seite stehen, dann …«
Weiter kam sie nicht. Ein Zusammenprall mit einer aufgeregten, jungen Hexe ließ sie stolpern und im Gewühl verlor sie ihre Schwester aus den Augen. Im selben Augenblick splitterte auch das Tor. Constantins Verteidigungslinie brach wie ein Damm, und die Flut der Angreifer ergoss sich in den Hof: Männer mit Helmen, Schilden und Morgensternen. Hinter ihnen drängte sich der Pöbel.
»Ra-ven! Ra-ven! Ra-ven-na!« Immer bedrohlicher klang der Schrei. Ravenna begriff ganz genau, was die Leute von ihr wollten, und sie fürchtete sich vor dem heiseren Gebrüll. Wie dumm von ihr, sich um die Sieben Sorgen zu machen! Sie war das nächste Opfer des Hexenbanners.
Mit beiden Ellenbogen teilte sie Stöße aus, wurde angerempelt und rempelte zurück, und einmal ging sie fast zu Boden. Der Hexenbanner blieb ihr auf den Fersen, obwohl er sich nicht sonderlich beeilte. Er schritt durch die Menge, ohne dass er einmal in Bedrängnis geriet. Magie ebnete seinen Weg. Mit jedem Windzug flackerte das Pentagramm auf seinem Stab glutrot auf, und er murmelte Formeln, die in Ravennas Ohren verdächtig nach der Verbotenen Sprache klangen.
»Verschwinde!«, brüllte sie dem Hexenjäger zu. »Lass mich in Ruhe! Was habe ich dir denn getan?«
Mit seinen schlaffen Augenlidern und herabhängenden Mundwinkeln erinnerte der Mann sie an den Jagdhund ihres Vaters, einen depressiven Basset, der den ganzen Tag auf der Fußmatte lag und furzte.
Dann plötzlich griff der Hexenjäger ü ber die Köpfe der Mädchen hinweg nach ihr und packte sie an der Schulter.
Sie setzte ihr ganzes Gewicht ein, um sich aus dem Griff des Mannes zu winden. Seine Hand war eiskalt und so weich wie Fledermauspelz. Als Ravenna zurückwich, stieß sie fast mit Norani zusammen. Zornig hob die junge Hexe eines ihrer Amulette und reckte es dem Hexenbanner entgegen. In ihren Augen loderten schwarze Flammen. »Sei gebannt!«, brüllte sie mit Löwenstimme.
Mit einem Fauchen ließ der Hexenjäger Ravennas Schulter los. Die Stelle brannte höllisch, und als sie das Gewand über die Achsel streifte, entdeckte sie Kratzspuren auf ihrer Haut: fünf lange, schmale Streifen vorne und einen Abdruck wie von einem Dorn auf dem Schulterblatt. Ihre Augen weiteten sich. Sechs Finger!
»Nimm dich vor dem Kerl in Acht«, warnte Norani. »Er ist eines von Beliars Schoßtierchen und trägt einen Dämon in sich, damit er handeln kann, wenn sich der Marquis nicht in dieser Zeit aufhält. Du wirst gleich sehen, was wir mit ihm anstellen. Ich will nur hoffen, dass du das Siegel bei dir trägst.«
Ravenna nickte. Sie schwitzte vor Angst und Aufregung. »Komm in den Kreis!«, riefen ihr die anderen Hexen zu.
Wachsam umringten die Sieben den Hexenbanner, der sich in ihrer Mitte um die eigene Achse drehte, den Stab auf den Boden rammte und Beschwörungsformeln hervorstieß. Überall im Hof wurde gekämpft, das Waffenklirren und das Stöhnen der Verwundeten übertönten alle anderen Geräusche. Hastig ließ Ravenna den Blick über die Kämpfenden schweifen, doch sie entdeckte weder ihre Schwester noch Lucian.
»Ravenna!«, rief Norani. »Wenn du noch länger zögerst, ist es zu spät! Nun mach schon!«
Hastig griff sie nach der Hand der Hexe, die ihr am nächsten stand. Als sie Mavelles Finger umfasste, spürte sie zu ihrer Überraschung einen harten Ring. Das Siegel von Samhain! Mavelle drückte es mit der flachen Seite in ihre Handfläche. Auch in den Händen der anderen Hexen glitzerten die geheimnisvollen Amulette.
»Fass mich genauso an, wie du es bei den anderen siehst!«, forderte Norani sie auf. Trotz des Gebrülls und des Lärms, der durch den Innenhof brandete, wirkte sie kühl und konzentriert. Sie achtete nicht auf die umherfliegenden Geschosse und auch nicht auf die feindlichen Kämpfer, die versuchten, sich zu dem Hexenzirkel durchzuschlagen. Erbittert hielten Constantins Krieger die Gegner auf.
Als Ravenna sich umdrehte, sprang der Hexenbanner auf sie zu. Ohne Vorwarnung streckte er ihr das umgedrehte Pentagramm entgegen. »Du! Verfluchte!«, brüllte er. »Weiche!«
Ravenna lehnte sich zurück, damit sie von dem Stab nicht im Gesicht getroffen wurde. Gleichzeitig fasste sie die anderen Frauen fester an den Händen. Sie
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