Die Hexen - Roman
Siegel von Samhain. Das Auge hatte sich wieder geschlossen. Jetzt war es nur ein alter Siegelring, den sie in der Hand hielt. »Du hast sie vertrieben! Melisende wollte mir etwas zeigen.«
Yvonne lachte entsetzt auf. »Hattest du denn gar keine Angst? Du warst drauf und dran, einem Geist durch dieses Spukhaus zu folgen! So etwas kann niemals gutgehen.«
»Und wenn schon«, zischte Ravenna. »Das hier ist mein Auftrag, schon vergessen? Die Sieben verlangen von mir, dass ich das Siegel des Sommers auf den Tanzplatz bringe. Außerdem kannte ich sie. Melisende war unsere Urahnin. Wir erbten unsere Gabe von ihr, doch ich konnte sie nicht retten.«
»Du … wir … unsere Gabe? Von einem Geist?« Yvonne blieben die Worte im Hals stecken. Sie hatte noch nie eine Geistererscheinung erlebt, doch dies hier war bereits die zweite Begegnung dieser Art. Dann sog sie den Atem ein. Der Duft war stärker wahrnehmbar als in der Kammer. Es roch, als hätte jemand eine Flasche Veilchenöl ausgekippt.
»Riechst du das?« Mit der Hand fächelte sie durch die Luft.
Ravenna schnupperte, als der Duft zu ihr herüberwehte. »Das riecht wie Obst. Frisch angeschnittene Pfirsiche, würde ich sagen«, murmelte sie.
Yvonne nickte. »Ein solcher Duft begleitet häufig eine Geistererscheinung«, erklärte sie. »Das habe ich irgendwo gelesen. Du meine Güte, Ravenna, wie soll das nur weitergehen? Du siehst selbst schon wie ein Gespenst aus.« Sie trat neben ihre Schwester und fuhr ihr tröstend durch das raue, ungekämmte Haar. »Lass es gut sein und komm zurück ins Bett. Das Tor hast du jetzt ja gefunden.«
»Was denn für ein Tor?«, brummte Ravenna, während sie das Siegel von Samhain zurück in ihre Tasche steckte.
Yvonne lächelte. »Das Tor zur Welt der Geister. Das Tor von Samhain.«
»Du solltest dich mal hören!« Ihre Schwester befreite sich aus ihrem Griff. »Anscheinend weißt du alles: Wie man magische Tore öffnet, den König belügt und die Geister vertreibt. Ach ja: Und wie man fremde Männer verhext. Das kannst du am allerbesten.«
Yvonne zuckte die Achseln. Die Dielen unter ihren nackten Füßen waren kalt. »Ich kann nichts dafür, wenn Lucian mich nett findet.«
»Du kannst nichts dafür.« Ravenna lachte tonlos. »Wir beide sind jedoch durch Magie verbunden, so wie es einst zwischen ihm und Maeve war. Was glaubst du wohl, welches Versprechen er einhalten wird?«
Sie beugte sich über das Geländer. Aus der Gaststube klangen Gelächter und Gesang. Der Hund lag auf den Fliesen vor der Tür und seufzte von Zeit zu Zeit. Offenbar hatte man ihn aus dem Schankraum verbannt.
»Schlafen die denn nie?«, wunderte sich Yvonne. Das schlechte Gewissen nagte an ihr, doch sie war keineswegs bereit, die Rolle der zu Unrecht Beschuldigten aufzugeben. Zu viel stand für sie auf dem Spiel.
Ravenna drehte sich um. Sie standen sich so nah gegenüber, dass Yvonne die Hitze spürte, die von ihren Körpern ausging, die Wärme vom Schlaf unter warmen Decken. »Lass Lucian einfach in Ruhe, okay?«, verlangte Ravenna müde. »Dir verfällt doch sowieso jeder Mann, der dir über den Weg läuft. Da, hör nur, wie sie sich zanken: Geh hinunter und such dir einen von Constantins Rittern aus. Ich wette, es dauert eine halbe Stunde und ihr liegt zusammen im Bett.«
Yvonne schürzte die Lippen. »Ich bin nicht so eine«, sagte sie. »Ich denke nicht daran, dir den Freund auszuspannen. Hier geht es um etwas anderes.«
Ravenna sah ihr in die Augen. »Aber Lucian kannst du nicht haben, Yvonne. Ihn nicht. Bitte.«
Sie musterten sich im fahlen, regenverhangenen Licht, das durch die Dachluken eindrang. Das graue Licht von Samhain, das Licht der Geisterwelt.
Schließlich schüttelte Yvonne den Kopf. »Du meinst es ernst. Du hast dich wirklich bis über beide Ohren in ihn verliebt.«
»Yvonne!«
»Und wie soll es mit euch beiden weitergehen? Hast du dir das schon einmal überlegt?« Sie hob die Hände. »Mehr als siebenhundert Jahre Unterschied, Ravenna. Ich habe ja schon viel über ungleiche Liebespaare gehört, aber du und dein Ritter …« Yvonne schüttelte den Kopf. »Willst du vielleicht für immer hierbleiben? Unter diesen Umständen?« Sie fuhr mit einer ausladenden Geste über die klammen Betten und die Wände, von denen der Putz blätterte. Unten im Hof stritten sich die Pferde um den letzten Rest Heu. Es goss in Strömen, und alles, was sie besaßen, um sich vor der Nässe zu schützen, war aus Leinen, Leder und Wolle. »Oder soll
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