Die Hexen - Roman
dadurch würde sie riskieren, dass er sich auf die Vorfälle in Straßburg besann und seine ursprünglichen Beschuldigungen vor den Rat der Sieben brachte. Sie war nicht stolz auf ihre Verwicklung in Beliars Pläne. Doch sie würde sich nicht dem Zorn der Hexen aussetzen, die magische Gaben förderten oder vertrocknen ließen, wie es ihnen passte. Sie war hier, um Ravenna beizustehen und alles wieder in Ordnung zu bringen – und das konnte sie am besten, wenn der König und die Sieben nicht wussten, wie weit sie sich tatsächlich auf Beliar und seinen schwarzmagischen Zirkel eingelassen hatte.
Lucian würde sie sofort anklagen, wenn sie ihm die Gelegenheit dazu gab, daran hatte sie keinen Zweifel. Sie dachte wieder an den Gesichtsausdruck, als er sie unter der Brücke an der Ill bedroht hatte. Ein Landstreicher, der sich von weggeworfenem Brot ernährte, ein Abenteurer und ein Vagabund, der wild entschlossen war, Schwarze Magie bis auf den letzten Funken auszurotten. Sie schauderte, als sie daran dachte, was mit der kleinen Florence geschehen war. Ein juckendes Büßerkleid und geschorene Haare würden ihr geringstes Problem sein, falls Constantin herausfand, dass sie tatsächlich auf Corbeaus Boot gewesen war und den Dolch benutzt hatte.
Seufzend schob Yvonne die Hand unter die Decke und kratzte an einem Flohbiss. Dann drehte sie sich auf die andere Seite. Das Bett war unbequem und sie konnte bei Tag nicht schlafen, egal wie lange sie in der Nacht zuvor wach gewesen war. Grübelnd starrte sie auf die Wand
Es war ungerecht, dass Constantin und die Sieben sie verurteilten. Schließlich hatte sie Ravenna und ihrem Ritter geholfen, das Siegel des Sommers zu finden. Und sie hatte für Gress den großen, braunen Umschlag an der Rezeption hinterlegt, der alle Informationen erhielt, die sie über einen gewissen Corvin Corbeau zusammengetragen hatte, seines Zeichens Psychotherapeut in Straßburg.
Der Kommissar hatte die Unterlagen inzwischen bestimmt erhalten, denn sie hatte ihrer Cousine eingeschärft, das Päckchen unerkannt an den Empfänger auszuhändigen. Vermutlich hätte der Inhalt ausgereicht, um Ravenna aus der Psychiatrie zu holen – und zwar ganz ohne Hexerei.
Es war einfach nicht fair, wenn die Sieben sie nun verurteilten.
Irgendwann während dieser Grübeleien musste sie eingeschlafen sein. Sie erwachte von dem Geräusch des Regens, der auf das Vordach prasselte. Hörte dieser Regenguss denn nie mehr auf? Die Atemzüge der schlafenden Elfe erfüllten den Raum. Das Licht im Zimmer war trüb.
Yvonne setzte sich auf. Auch Ravenna war wach. Sie kauerte im Schneidersitz auf dem Boden und umklammerte mit beiden Händen das Siegel von Samhain. Blasse Lichtpunkte sprenkelten ihr Gesicht und Yvonne brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass der Schimmer von den Edelsteinen auf dem Siegel ausging. Die Windrose drehte sich mit einem leisen Sirren wie ein Ventilator. Die magische Schrift auf dem Rand des Rings warf glühende Wellenlinien an die Wände. Das Auge von Samhain hatte sich geöffnet.
Mit einem lauten Atemzug hob Ravenna den Kopf. »Geister«, murmelte sie. »Geister!«
Erneut schwebte eine Erscheinung im Raum, doch sie war weit weniger unheimlich und blutig als der Spuk in der Gaststube. Eine Hexe mit einem langen, weißen Zopf und einem gütigen Gesichtsausdruck stand in der Kammer. Milchweißes Licht hüllte sie ein. Sie blickte Ravenna an und streckte die Hand nach ihr aus.
»Melisende«, flüsterte Ravenna.
Yvonne bekam am ganzen Körper Gänsehaut, als sie sah, wie ihre Schwester die geisterhafte Hand ergriff. Finger aus Licht und Finger aus Fleisch und Blut verschränkten sich ineinander. Ravenna stand auf und folgte der Erscheinung zur Tür. Als die beiden an ihrem Bett vorbeikamen, nahm Yvonne den Duft von Veilchen wahr. Veilchen? In dieser Kammer, die seit der Erfindung des Rads kein Mensch mehr geputzt hatte? Sie atmete tief ein. Kein Zweifel – ein süßes, melancholisches Aroma erfüllte den Raum, der Duft von Mémés Garten.
»Ravenna!«
Sie schwang die Beine aus dem Bett, als ihre Schwester die Tür öffnete und in den Flur trat. Im Dunkeln leuchteten die Umrisse der geisterhaften Hexe kristallklar. Als die Fremde Yvonnes Stimme hörte, drehte sie sich um und ein Ausdruck des Unwillens huschte über ihr Gesicht. Abwehrend streckte sie die Hand aus. Dann verblasste die Erscheinung allmählich.
Ravenna seufzte und lehnte sich gegen das Geländer. Gereizt starrte sie auf das
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