Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
Vom Netzwerk:
Nachtluft strömte in das Gebäude und die Reste des Dachs knarrten bedrohlich. Sterne funkelten zwischen den ins Leere ragenden Balken.
    Bitte lass Yvonne nichts passiert sein, flehte Ravenna stumm. Bring sie heil zu mir zurück – alle beide. Sie tastete sich den dunklen Flur entlang, um die Tür zum Schlafsaal zu finden. Da stieß ihr Fuß gegen einen Sack, der mit Weizenkörnern gefüllt war. Er rollte herum. Als sie sich bückte, um ihn aus dem Weg zu ziehen, entdeckte sie, dass es kein Sack war, sondern die Tochter des Wirts. Ein Dolch steckte quer im Hals des jungen Mädchens. Ihre Augen blickten ins Nichts.
    Ravenna biss sich in den Handrücken, um nicht laut aufzuschreien. Unten im Erdgeschoss schlug eine Tür im Wind. Sie war sicher, dass irgendwo in der dunklen Stube auch der Wirt lag, vermutlich ebenso erstochen wie seine Tochter.
    Jemand war in diesem Haus. Mit großer Wahrscheinlichkeit war es derselbe Mann, der auch die feindlichen Krieger in den Hof gelassen hatte. Das war der Verräter – nicht Yvonne, dachte Ravenna. Sie zitterte vor Zorn, denn sie vermutete, dass der Gastwirt eine Mitschuld an dem Überfall trug. Womöglich hatte er einen Boten losgeschickt, während seine Gäste aßen, in der Hoffnung auf mehr Gold, als Constantin ihm geboten hatte. Der alte Narr hatte die Sieben an Beliar verraten und nun erhielt er die Quittung dafür.
    Lautlos stieg Ravenna über das tote Mädchen. Ihre Finger streiften an der Wand entlang, während sie auf die Tür des Schlafsaals zuging. In der Ritze unter der Tür sah sie einen Lichtschein, gleißender und heller als jede Lichtquelle, die es in dieser Welt gab. Plötzlich knackte es hinter ihr und sie zuckte zusammen. Hastig griff sie nach dem Hexendolch, doch der Mann, der ihr im Dunkeln auflauerte, kam ihr zuvor. Er packte ihr Handgelenk und riss die Klinge aus der Scheide. Im nächsten Augenblick hörte sie seine Atemzüge, ein erregtes, schweres Schnaufen. Ein Luftzug strich ihr über den Nacken und ihr eigenes Messer schmiegte sich ihr an den Hals.
    »Dreh dich nicht um!«, befahl eine Stimme dicht an ihrem Ohr.
    Die Knie sackten ihr weg, denn es war, als würde sie erneut durch ein Zeittor geschleudert, nur dass sie den Sturz diesmal bei vollem Bewusstsein erlebte. Es war dieselbe Stimme wie in dem dunklen Flur vor ihrer Haustür in Straßburg. Sie gehörte dem Einbrecher, dessen Tat sie seit Monaten verfolgte, eine Stimme, die sie zum ersten Mal im Jahr 2011 gehört hatte.
    Der stockdunkle Flur drehte sich um sie und sie fing so heftig zu zittern an, dass sie beinahe umfiel. Der Mann packte sie am Arm und fing sie auf. Es war nicht freundlich gemeint.
    »Wer bist du? Was willst du?«, fragte sie und erschrak, wie hell und piepsig ihre Stimme klang. Hatte sie damals auch gefragt? Hatte sie den Mut gehabt, den Angreifer anzusprechen?
    Statt einer Antwort bohrte sich die Messerspitze in ihre Wange. Der Geruch von damals drang ihr in Mund und Nase, der Geruch von Stahl und Wut. Der Mann trug Lederhandschuhe mit breiten Stulpen und an der rechten Hand einen Ring. Wieso hatte sie Gress nichts von diesen Details erzählt? Wieso erinnerte sie sich nicht mehr an alle Einzelheiten? Und wieso wiederholte sich dieser Alptraum?
    »Geh vorwärts! Los!« Der Mann stieß sie, so dass sie beinahe hinfiel. Unter sich hörte sie ein Rumpeln. Wurde in der Gaststube geplündert? Oder war es Vernon oder ein anderer von Lucians Begleitern? Genau wie damals, in einem Haus voller schlafender Nachbarn, wagte sie nicht zu schreien. Das Pochen in ihrem Kopf machte sie ganz benommen.
    »Geh weiter – nun mach schon!«, befahl der Mann. »Welchen Ursprung hat dieses Licht? Bring mich dorthin!«
    Das war neu. In Straßburg hatte sich der Einbrecher so sicher bewegt, als hätte er den Flur und den Eingangsbereich im Obergeschoss tagelang ausgekundschaftet.
    »Ich weiß nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was …«
    »Schweig!« Der Dolch bohrte sich ihr in die Haut. Sie war nicht auf den Schmerz gefasst und stieß ein Wimmern aus. Blindlings tappte sie durch den Gang, bereit, jede Tür zu öffnen, die sie fand. Vor dem Schlafsaal der Mädchen blieb sie stehen und streckte die Hand nach dem Knauf aus. Später sollte sie sich immer wieder fragen, woher sie die Geistesgegenwart nahm, mit der sie in den nächsten Sekunden handelte. Sie gewann nichts dadurch, außer vielleicht ein Stück ihrer Selbstachtung. Und das war wichtig. Es war vielleicht der Grund, weshalb sie alles

Weitere Kostenlose Bücher