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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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erkannte den überdachten Ziehbrunnen, den Eingang zur Küche und das Türmchen, in dem sich der Treppenaufgang zu den Wohnräumen befand. Sobald sie aus dem Gang trat, befand sie sich unter der hölzernen Galerie, welche die Gemächer der Burgherren miteinander verband.
    Nicht unbedingt der Ort, an dem sie hatte landen wollen. Der Kerker wäre ihr lieber gewesen, denn dort vermutete sie Velascos Gefangene – oder zumindest Lucian. Andererseits wurde der Innenhof nicht bewacht, denn er bildete den Kern der Festung, den am besten geschützten Teil der Burg. Eroberer, die auf den Hœnkungsberg kamen, mussten sich erst mühsam durch die vorgelagerte Schanze, über zahlreiche Zugbrücken und unter Fallgittern hindurchkämpfen, um in die Gemächer des Burgherrn und seiner Familie einzudringen.
    Oder sie nahmen die Abkürzung durch den Geheimgang.
    Ravenna holte tief Luft. Sie wechselte die Schwerthand, wischte die Handfläche am Umhang trocken und packte erneut den Griff. Dann trat sie ins Freie. Hier roch es eindeutig nicht mehr nach Pfirsichen, sondern nach Bratfett und kalter Asche. Aus der offenen Küchentür drang das Schnarchen des Kochs. Ravenna entspannte sich und sah sich in dem Innenhof um. Eine lange Kette führte in den Brunnen, die spitz zulaufende Holztür dahinter war verschlossen. Über dem Aufgang zur Wendeltreppe befand sich ein Wappen. Es zeigte einen Hexendolch und einen langstieligen Kelch, die von einer Schleife aus Spitze umschlungen waren. Vor der Tür war ein kreisrunder Glasdeckel eingelassen – eine Falltür.
    »Gefällt dir meine Burg?«
    Um ein Haar hätte Ravenna die Waffe fallen lassen. Das Klappern von Schwertstahl auf Stein hätte zweifellos die ganze Festung auf die Beine gebracht. Sie wirbelte herum und hob das Schwert über den Kopf.
    Die Marquise stand auf der Galerie und stützte die Ellenbogen auf das Geländer, das Kinn auf die verschränkten Finger gelegt. Sie trug einen schwarzen Spitzenschleier und das Geschmeide mit der mitternachtsblauen Perle. Elinor sah nicht aus, als ob sie in dieser Nacht geruht hatte.
    »Ich wusste, dass du kommst.« Sie lächelte dünn. »Ich hatte fast schon erwartet, dass du meinen Geheimgang entdeckst. Du hast mich nicht enttäuscht. Ich ließ den Tunnel anlegen, um auf dem Hœnkungsberg ungesehen kommen und gehen zu können, was gelegentlich durchaus von Vorteil ist. Um ihn auch wirklich geheim zu halten, ließ ich meinen Baumeister und seine Gehilfen köpfen. Jemand anderes muss dir also geholfen haben.«
    Ravenna schluckte. Der Stahl des Schwertes glänzte, als sie rückwärts in den Hof trat. So schnell sie konnte, drehte sie sich um und rannte zum Treppenaufgang. Die Marquise stieß sich von der Brüstung ab und eilte auf gleicher Höhe auf der Galerie entlang. Sie bewegte sich so lautlos wie eine Hexe.
    Sie ist eine Hexe, erinnerte Ravenna sich, als sie der gläsernen Falltür auswich. Allerdings keine freundliche Zauberin wie Esmee oder eine Heilerin wie Nevere, sondern eine rabenschwarze Ausgeburt der Hölle.
    Atemlos rannte sie den Treppenaufgang hinauf. Sie wollte Elinor zuvorkommen, ganz gleich was die Marquise vorhatte – eine Alarmglocke schlagen, um Hilfe schreien oder den Marquis aus seinen Träumen reißen, falls ein Dämon wie Beliar überhaupt schlief. Als sie die Tür zur Galerie aufriss, stand Elinor vor ihr.
    »Ich wusste doch, dass wir uns wiedersehen«, sagte sie. Sofort fiel Ravenna auf, wie sie Lucians Klinge auswich, als fürchte sie, mit dem Stahl in Berührung zu kommen. Mit einem geweihten Schwert, das Ravenna eigenhändig in den magischen Strom getaucht hatte.
    »So ist das also«, stieß sie hervor. »Vor den Schwertern der Gefährten müsst ihr euch in Acht nehmen, du und dein Marquis? Wo steckt Beliar eigentlich? Und wo befinden sich Lucian und meine Schwester?«
    Elinor bog sich noch weiter nach hinten, um der Spitze auszuweichen, die vor ihrer Brust auf und ab tanzte. Ihre Augen funkelten. Ravenna hatte Mühe, die Waffe ruhig zu halten. Sie war aufgeregt und keuchte wie nach einem Dauerlauf. Ganz sicher würde sich Elinor gleich auf sie stürzen, nach den Wachen rufen oder sonst etwas Verrücktes und Gefährliches tun. Es war eine blöde Idee, allein hierherzukommen, stellte sie fest. Eine sehr blöde Idee.
    »Warum steckst du das Schwert nicht weg und wir reden miteinander?«, schlug die Marquise vor. »Nur wir beide.« Die mitternachtsblaue Perle rollte über ihre Stirn, umgeben von einem milchig matten Glanz.

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