Die Hexen - Roman
Gegenteil versichern wird. Cedric vom Hœnkungsberg war ein guter Gatte. Freundlicher, als ich erwartet hatte, unterhaltsamer, als ich es bin, und gütiger, als ich verdiente.« Die Marquise ließ sich auf dem zweiten Sessel nieder, öffnete die Handfläche und zeigte Ravenna eine wulstige Narbe. »Doch alles hat seinen Preis«, murmelte sie.
Ravenna hob den Kopf. »Das klingt, als hättest du bereits für deine Sünden bezahlt. Zumindest eine Anzahlung.«
Wie eine Schlange fuhr die Marquise zu ihr herum. »Du redest genauso überheblich wie die Sieben! Ach, ihr guten, weisen Frauen, ihr Heilerinnen, Hebammen und Hellseherinnen, die ihr immer an das Gute glaubt. Doch jedes Ding hat zwei Seiten, eine helle und eine dunkle! Wann begreifst du das endlich?«
Während dieses Wutausbruchs begann der Becher in Ravennas Hand zu glühen, bis sie ihn mit einem Schmerzschrei fallen ließ. Wie eine Blutlache breitete sich der Wein auf den Steinfliesen aus. Sie starrte auf den Fleck und zwang sich, an das zu denken, was Beliar in der Klinik zu ihr gesagt hatte, Satz für Satz und Wort für Wort. Elinor war eine Bedrohung – aber zugleich war sie auch die Schlüsselfigur in Beliars Plänen. Eine Marionette, die der Teufel an seidenen Fäden tanzen ließ. Oder eine Hexe, die sich über die Mauer stürzte.
Elinor seufzte, hob den Schleier mit beiden Händen und ließ ihn auf die Schultern sinken. Es machte keinen großen Unterschied: Das Haar der Marquise war rabenschwarz.
»Hör gut zu!«, ermahnte sie Ravenna. »Was ich dir nun sage, erfährst du nur ein einziges Mal. Ich werde dir den Plan meines Gemahls verraten, in der Hoffnung, dass du ebenso sehr wie ich verhindern willst, dass Beliar den magischen Strom an sich reißt. Denn das wäre unser beider Ende, das weißt du genau.«
Vorsichtig breitete sie die Pergamentrolle am Kamin aus, wobei sie es vermied, in die Weinpfütze zu treten. »Es wird sich alles auf dem Tanzplatz der Hexen zutragen. Der Hohe Belchen ist einer von drei Gipfeln, die, als Ganzes gesehen, ein gleichseitiges Dreieck bilden. Genau genommen sind es drei Berge mit gleichem Namen, hier, hier und hier.« Mit dem Finger fuhr Elinor über die Karte.
Das Dokument enthielt zahlreiche Skizzen und Berechnungen. Ravenna kam das Schriftstück bekannt vor. Dann fiel ihr ein, wo sie eine ähnliche Zeichnung gesehen hatte: in Avelines Siedeküche.
Sie beugte sich vor. Die Berggipfel verteilten sich rings um das Flusstal. Einer lag auf der Ostseite des Stroms, der zweite Berg befand sich im Jura und auf den dritten Gipfel ritten die Sieben zu.
»Die Kuppen dieser Berge sind nicht bewaldet, was in dieser Gegend ziemlich ungewöhnlich ist«, fuhr Elinor fort. »Das bedeutet, dass man auf jedem Gipfel eine gute Fernsicht hat und den Horizont überblickt. Ein idealer Platz, um Himmelsmessungen und astronomische Berechnungen anzustellen.« Flüchtig deutete sie nach Osten, Süden und Westen. »Ich hoffe, du weißt, was ein gleichseitiges Dreieck ist?«
»Natürlich weiß ich das!«, brauste Ravenna auf. »Zu Hause arbeite ich den ganzen Tag mit geometrischen Formen. Bei einem gleichseitigen Dreieck misst jeder Innenwinkel 60 ° .« Sie zeigte das Maß zwischen Daumen und Zeigefinger an. Einer Steinmetzin lagen solche Abstände im Blut. Zumindest hatte sie durch jahrelange Arbeit an Pfeilern und Gesimsen ein Gefühl dafür bekommen. Ein gleichseitiges Dreieck spiegelte die perfekte Form wider. Es war, so wie der goldene Schnittoder der vitruvianische Mensch, ein Beispiel für perfekte Proportionen. Es war … ein Maßstab.
Aufgeregt beugte sich Ravenna über die Zeichnung. Plötzlich ahnte sie, dass es um mehr ging als um Geometrie und Landeskunde. Die Pergamentrolle enthielt ein magisches Geheimnis.
»Wenn man auf dem Hohen Belchen steht, kann man über diese Achsen die anderen Berge anpeilen«, erläuterte Elinor. »Zu Yule geht die Sonne genau über der Belchenflue auf. Hier, siehst du? Daher wissen wir, wann es Zeit ist zu tanzen und die Siegel zusammenzubringen.«
Aus den Augenwinkeln warf Ravenna der Marquise einen neugierigen Blick zu. War ihr bewusst, dass sie soeben ›wir‹ gesagt hatte? Elinor stand den Sieben näher, als sie selbst ahnte. Dann folgte ihr Blick wieder Elinors Finger mit dem schwarzen Ring, der entlang einer Peilachse über das Pergament glitt.
»Wenn man an dieser Stelle steht, erkennt man den Ursprung des magischen Stroms. Niemand weiß genau, warum es so ist, doch der Kraftfluss geht
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