Die Hexen - Roman
vorzustellen vermag.«
Ravenna schluckte. Ihr Mund war trocken und sie befand sich in jenem merkwürdigen Stadium der Anspannung und Aufmerksamkeit, das man nach einer durchwachten Nacht erlebt.
»Setz dich!«, lud sie die Hexe vom Hœnkungsberg ein und wies auf einen der beiden Sessel. Elinor stand neben dem Feuer und goss Wein in einen funkelnden Kelch.
Ravenna rührte sich nicht. »Wo ist meine Schwester? Und wo ist Lucian? Was macht Velasco mit ihm?« Verräterische Tränen kitzelten sie plötzlich an der Nase. Sie wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht, doch es half nichts: Die Gestalt der schwarzen Marquise verschwamm vor ihren Augen.
Mit einem Stirnrunzeln reichte Elinor ihr den Pokal. »Warum muss Lucian seinen Vater immer bis aufs Blut reizen?«, murmelte sie. »Er weiß doch, wie gefährlich Velasco werden kann. Nach einem Leopard wirft man schließlich auch nicht mit Steinen.« Ihre Finger waren eiskalt. Ringe klickten gegen das Gefäß. Jeder Reif war mit breiten, schwarzen Steinen verziert. »Trink«, sagte sie leise. »Dann fühlst du dich gleich besser.«
Ravenna wankte zum Kamin und ließ sich in den Sessel fallen. Sie hob den Becher an die Lippen – und erstarrte. Ich könnte aus diesem Pokal einen heiligen Gral machen oder ein Gefäß, in dem sich jeder Tropfen Wein in Gift verwandelt. Florences Worte klangen ihr in den Ohren. Gut und Böse liegen dicht beieinander, denn sie kamen zur selben Zeit in die Welt.
Seufzend beugte sich Elinor über die Lehne, nahm Ravenna den Pokal aus der Hand und schüttete den Inhalt in die Flammen. Eine schwefelgelbe Stichflamme loderte empor und Ravenna zuckte zurück. Schützend hob sie die Hand vors Gesicht, als eine Hitzewoge über sie hinwegstrich.
»Du bist gut«, bemerkte Elinor trocken. »Zweifellos auf dem Hexenberg ausgebildet – das merkt man. Dieser Trank hätte deinen Körper binnen weniger Herzschläge gelähmt und dich darin eingeschlossen, bis die Mittsommernacht vorüber ist. Ich wollte nicht, dass du hier irgendeinen Unfug anstellst, doch offenbar ist es Morrigans Wille, dass ausgerechnet du mir in die Quere kommst.«
Mit einem verkniffenen Lächeln wischte die Marquise den Pokal sauber und füllte das Gefäß ein zweites Mal. Sie hob den Becher an die Lippen und nahm einen tiefen Zug, bevor sie ihrem Gast den Kelch reichte. Der Höflichkeit halber tat Ravenna so, als würde sie einen Schluck trinken, doch sie achtete darauf, dass ihre Lippen nicht mit der dunklen Flüssigkeit in Berührung kamen. Anschließend klammerte sie sich an den Weinbecher und starrte in die Flammen. Es war unbequem, mit einem Schwert gegürtet am Feuer zu sitzen, aber sie hatte keine andere Wahl: Sie war eine Fremde in einer feindlichen Burg. Elinors lautloses Umhergehen im Hintergrund machte sie nervös. Die Marquise öffnete nacheinander Schränke und Truhen, auf der Suche nach einem vermissten Gegenstand.
»Keine Sorge, der Marquis kann hier nicht eintreten«, erklärte sie, während sie sich einem Möbelstück zuwandte, das neben der Fensternische stand. Der Schrank war von Riegeln und Schlössern übersät . Auf ein Wort der Marquise zog sich das geschmiedete Eisen zurück und gab die Fächer frei. Elinor öffnete eine Tür, zog einen sorgfältig gerollten Pergamentbogen heraus und wedelte mit der Hand. »Grewanier!«, befahl sie und wie rankendes Efeu, das im Zeitraffer gefilmt wurde, krochen die Riegel wieder über das Eichenholz.
Ravenna schüttelte sich und nahm sich vor, sich besser vor der Hexenkunst der schwarzen Marquise in Acht zu nehmen. Elinor bezwang die Naturgesetze scheinbar aus dem Handgelenk und sie führte eine bestimmte Absicht im Schilde – das spürte Ravenna genau.
Als die Marquise ans Feuer zurückkehrte, schlug sie einen unbeschwerten Plauderton an. »Du darfst eines nicht vergessen: Auch ich wurde im Konvent der Sieben ausgebildet und weiß, wie man einen Raum vor ungebetenen Eindringlingen schützt. Als Beliar meine Burg in Beschlag nahm, wollte ich wenigstens diese eine Kammer für mich allein haben. Wenigstens dieses Bett.« Mit einer gereizten Handbewegung wies sie auf das Gestell unter dem Baldachin. Als sie Ravennas erschrockenes Gesicht sah, lachte sie. Es war ein Geräusch wie splitterndes Glas.
»Beliar hätte mich nur zu gerne zu seiner Marquise gemacht. Doch ich ließ es nicht zu – nicht das. Als ich den Teufel rief, war ich bereits verheiratet. Und ich liebte meinen Mann, auch wenn dir jeder auf dieser Burg das
Weitere Kostenlose Bücher