Die Hexen - Roman
jungen Ritter noch vor kurzem aufgezogen hatten. Die unbeschwerten Stunden schienen unendlich weit weg.
Sie musterte die Sieben: Norani, deren Verlangen nach Ramons Gesellschaft so groß war wie ihre Sehnsucht nach Lucian. Aveline, die nicht länger schmollte, sondern sich die ganze Angelegenheit offensichtlich sehr zu Herzen nahm. Esmee und Nevere gaben ihr gute Ratschläge mit auf den Weg. Josce tätschelte der Stute den Hals und flüsterte Willow einen Spruch ins Ohr, der das Pferd aufhorchen ließ. Die Elfe begleitete sie bis zum Tor.
»Es hat schon seinen Sinn, dass du alleine weiterreitest«, murmelte sie, sobald sie außer Hörweite der anderen waren. »Nun können wir dir nichts mehr beibringen. Auf die Suche nach Morrigan geht jede von uns ganz allein.«
Ravenna nickte. Sie straffte die Riemen, an denen sie Ghost und Changeling als Handpferde führte. »Vorwärts!«, rief sie.
Vernon deutete eine Verbeugung an, als er das Hoftor öffnete. Der Hufschlag hallte durch die nächtlichen Gassen, die Pferde schnaubten aufgeregt. Über die Schulter warf Ravenna einen Blick zurück auf den erleuchteten Innenhof, auf die blassen, angstvollen Gesichter ihrer Gefährten im Spalt zwischen Hoftor und Mauer und auf den Mond, der hinter zerrissenen Wolken schien.
Nichts war mehr wie am Anfang. Als dürres, unglückliches Mädchen war sie auf dem Hexenberg angekommen, eine verschreckte junge Frau, die sich in einer roten Regenjacke verkroch. Nun zog sie aus, um ihren Liebsten zu befreien und den Sieben auf der letzten Wegstrecke beizustehen.
Sie schnalzte und grub ihrer Stute die Fersen in die Seite. Nach wenigen Minuten lagen das Dorf und der verfluchte Gasthof hinter ihr.
Verrat
Ravenna hatte vergessen, wie dunkel das Mittelalter war. Nachdem der Mond im letzten Drittel der Nacht hinter Wolken verschwand, sah sie die Hand nicht mehr vor Augen. Sie hörte nur die eigenen Atemzüge, das Klappern der Pferdehufe und das Rauschen und Gurgeln des Bachs, an dem sie seit einer Weile bergauf ritt. Es roch nach Harz und nassem Waldboden. Zweige verfingen sich in ihren Haaren, und sie duckte sich über den Pferdehals.
Ihr war schlecht vor Angst. Sie ritt einsam durch die Nacht, um die größte Burg des Elsass herauszufordern. Noch vor wenigen Wochen hätte sie eine solche Aufregung nicht einmal vom Kinosessel aus gut verkraftet, mit einer Tüte Popcorn in der Hand.
Doch ihr blieb keine andere Wahl. Es schien ihr, als hätte sich ihr ganzes Leben verengt, bis es jenem steilen, schmalen Pfad glich, auf dem sie zur Burg ihrer Feinde hinaufritt. Und wenn die Angst sie um den Verstand brachte: Sie wollte nur eines – so schnell wie möglich auf diesen Berg gelangen.
Sie durfte nicht einmal daran denken, dass es womöglich längst zu spät war, dass Lucian und ihre Schwester inzwischen tot sein konnten, denn dann wurde ihr so elend, dass sie keine Kraft zum Weiterreiten hatte. In diesen Augenblicken griff sie nach dem Schwert und schloss die Finger um den Griff. Das Metall schmiegte sich kühl in ihre Handfläche. Das Heft verfügte über Rillen, damit der Schwertkämpfer sicheren Halt fand, und Ravenna stellte sich vor, wie oft Lucian diese Stelle berührt hatte. Das Schwert war mehr als eine Waffe, es war ein Teil von ihm und seit dem Ritual am Maistein auch ein Teil von ihr. Plötzlich war ihr zum Heulen zumute, doch stattdessen lachte sie, weil sie daran denken musste, wie diese Klinge in ihrem Kleiderschrank gehangen hatte, zwischen ihren Jacken, Pullovern und all den anderen Sachen aus der Zukunft. Gleichzeitig schämte sie sich, dass sie Lucian nicht mehr vertraut hatte.
Plötzlich blieb Willow stehen. Der Mond kam hinter den Wolken hervor und Ravenna fluchte erschrocken. Die Hexen hatten nicht übertrieben: Die Kuppe des Hœnkungsberg schien abgebrannt. Umgestürzte Baumgerippe bildeten ein Durcheinander. Die Zerstörung hatte sich tief in den Wald gefressen und es roch, als hätte jemand den Gipfel mit einer Wanne Teer übergossen. Auf dem Felsrücken vor ihr lag die Festung. Fahl glänzten die Mauern und Dächer im Mondlicht; Ravenna entdeckte den Zwinger und die Vorburg, den rechteckigen Burgfried, der alle anderen Türme überragte. Von allen Seiten wurde der Wohnturm von tonnenförmigen Bollwerken flankiert. Der Anblick machte ihr Angst. Jede dieser Tonnen war so groß, dass ein Helikopter darauf landen könnte. Es war vollkommen still.
Du musst verrückt sein, dachte Ravenna. Constantin hat diese Burg
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