Die Hexen - Roman
dachte dabei an den magischen Strom. Bestimmt floss er auch an dieser Stelle: Elinors Burg war auf einem alten Kultplatz erbaut, daran hatte Ravenna nicht den geringsten Zweifel.
Ihre Handflächen begannen zu jucken. Das war das erste Anzeichen. Ein Brennen breitete sich in ihren Fingern aus und kroch durch die Handgelenke bis zu den Ellenbogen. Als sie das Gefühl hatte, dass ihre Arme in Flammen standen, wusste sie, dass sie mitten in die Magie griff und mit dem Kraftfluss verbunden war. Sie hob den Kopf.
Melisendes Geist schwebte unmittelbar vor ihr. Die Weiße Frau, die durch Beliars Wälder spukte, durchsichtig und schimmernd wie ein Streifen Mondlicht. Jede Falte ihres Gewands war erleuchtet und in der linken Hand hielt sie den Fächer , mit dem sie sich in schnellen Bewegungen Luft zufächelte. Die tote Hexe runzelte die Stirn.
»Es tut mir leid, wenn ich deine Ruhe stören muss«, stammelte Ravenna. »Aber ich muss noch heute Nacht in Elinors Burg gelangen und weiß nicht, wie ich es anstellen soll. Du bist die Einzige, die mir helfen kann. Ich weiß, dass du und Tade einen Feuerring um diese Festung gelegt habt. Und ich bin sicher, dass du jede Schwachstelle kennst.«
Die Erscheinung waberte bei jedem Luftzug wie eine Kerzenflamme. Die Geisterhexe regte sich nicht. Plötzlich drehte sie sich um und glitt über den Pfad, von einem Windstoß angetrieben. Hastig löschte Ravenna die magischen Zeichen mit der Stiefelspitze aus. Dann rannte sie den Pfad entlang, um Melisendes Geist einzuholen. Die tote Hexe führte sie bis zu einer Stelle, an der sich der Felsen zu einem Überhang wölbte.
»Hier?«
Ratlos musterte Ravenna die Felswand. Vor ihr lag eine Klippe aus Sandstein. Erst als sie die Hand über den Felsen gleiten ließ, fühlte sie eine Unebenheit, einen verschlungenen Knoten, der zu einem Knauf geformt war.
Über die Schulter warf sie Melisendes Geist einen Blick zu. Die Hexe hatte die Arme verschränkt. Ravenna umklammerte den Schwertgriff, legte die andere Hand auf den Felsenknauf und drehte daran. Er ließ sich nicht bewegen, weder nach rechts noch nach links, und auch als sie mit ihrem ganzen Gewicht daran zog, tat sich nichts. Seufzend hielt sie inne. Als sie sich abstützte, streifte sie den Knauf eher unbeabsichtigt, doch unter dem Druck ihrer Finger glitt er in die Wand. Der Fels knirschte. Die Umrisse einer Tür wurden sichtbar, oben und unten von einem Keil gehalten.
Während Ravenna verblüfft auf die Schwingtür starrte, merkte sie plötzlich, dass diese sich immer weiterdrehte und sich der Durchgang vor ihrer Nase bereits wieder zu schließen drohte. Hastig zwängte sie sich in den Spalt, wurde von der Drehung erfasst und in den Gang geschubst. Stein knirschte auf Stein und dann wurde es stockdunkel.
Ravennas Herz pochte wie wild. Sie wartete, bis sie nicht mehr so entsetzlich keuchte. Dann zog sie das Schwert. Verlor sie jetzt den Verstand oder roch es in dem Gang wirklich nach Pfirsichen? Wie in der Brennerei ihres Vaters, wenn er Likör ansetzte.
Ein fahler Lichtschein erschien vor ihr und in ihrer Angst und Verwirrung glaubte sie zunächst, eine winzige Fee wahrzunehmen. Dann erkannte sie, dass es Melisendes Geist war, der ihr einige hundert Meter voraus war und ungeduldig winkte.
Sie heftete die Augen fest auf den Schimmer. Im Hexenlicht, das von Melisende ausging, sah sie, wie sich der Gang durch den Felsen wand. Hastig folgte sie dem Tunnel. Eile war geboten, denn draußen über dem Bergwald begann bereits der Mond zu sinken und mit dem Morgengrauen endete die Geisterstunde. Sie musste lange gehen, ehe der Ausgang vor ihr lag, denn an dieser Stelle war der Burgfelsen viele Meter dick.
Die geisterhafte Hexe wartete an dieser Stelle, die Hand auf den Gesteinsbogen gelegt. »Danke«, sagte Ravenna. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme erleichtert klang. »Vielen Dank.«
Ein Lächeln huschte über Melisendes Züge. Ihre Lippen bewegten sich. Vielleicht sagte sie Ravenna. Oder etwas ganz anderes. Es spielte keine Rolle mehr, denn es war Zeit für den Abschied.
»Erschienen, um nie vergessen zu werden«, flüsterte Ravenna. »Das verspreche ich. Und nun geh. Ich entlasse dich. Lebewohl.«
Melisende trat einen Schritt zurück in den Gang. Sie lächelte noch immer, als die Dunkelheit sie aufsog wie ein Stück Zucker, das man in eine Tasse Kaffee gab. Dann war Ravenna allein.
Vorsichtig beugte sie sich aus dem Gang. Vor ihr befand sich der Innenhof der Burg. Sie
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