Die Hexen - Roman
enttäuscht, weil die Bärin ihr Opfer in die Höhle geschleppt hatte, statt es unter der Zugbrücke zu zerfleischen.
Ravenna starrte die fremde Frau an. Sie ist verrückt, dachte sie. Beliar hält die Ärmste schon so lange in diesem Moderloch gefangen, dass sie den Verstand verloren hat. Panik überkam sie.
»Wer bist du?«, flüsterte sie mit rauer Stimme. »Woher kommst du? Warst du vorhin auch schon da?«
Eigentlich hätte sie über die Beine der Unbekannten stolpern müssen, als sie aus dem Ausgang des Tunnels kam. Sie hätte die Frau in dem Verlies sofort entdecken müssen, es sei denn, es gab noch einen anderen Ausgang.
Die Fremde lachte leise. »Das weißt du nicht mehr? Die größte Gefahr lauert in deinen Gedanken, Ravenna. Wenn du glaubst, da sei ein Bär, dann wird einer da sein. Wenn Doktor Corbeau dir einredet, deine Seele ist in Gefahr, dann wirst du alles tun, um sie zu retten, nicht wahr? Das stimmt doch, oder?«
Sie starrte die Unbekannte an. Wie seltsam, dass die Frau ihren Namen kannte. Hatte sie im Schlaf geredet? »Was hast du getan, dass Beliar dich hier einsperrt? Bist du auch eine Hexe?«, fragte sie.
Die Unbekannte antwortete nicht. Sie beobachtete, wie sich die Wiese am Rand des Grabens leerte. Schließlich waren sie allein.
»Ja, ich war vorhin auch schon da«, sagte die Fremde nun. »Eigentlich bin ich immer da.«
Ravenna blinzelte. Dann begann sie ganz allmählich zu begreifen. »Wer bist du?«, flüsterte sie erneut.
»Was glaubst du denn?«, erwiderte die Frau.
Ravennas Mund wurde trocken. »Morrigan«, hauchte sie. Niemand anderes würde sie in diesem finsteren Loch beim Namen nennen als die Königin der Hexen. Die Göttin, die über den Kreis der Geweihten wachte und das Jahresrad in jeder Mittwinternacht von neuem in Schwung brachte. Und die Elinor nicht gewollt hatte. »Aber wie kann das sein? Ausgerechnet jetzt! Hier, in Beliars Verlies!«
»Ich weiß, es kommt immer irgendwie ungelegen«, seufzte Morrigan. »Ich scheine nie den richtigen Augenblick zu erwischen. Aber ich bin hier, Ravenna, und zwar deinetwegen. Wo ist dein Siegel?«
»Ich …« Ravenna schluckte. »Ich habe es Millie gegeben. Weil sie mit den anderen Hexen reitet und es sicher auf den Hohen Belchen bringt, während ich hierherkam, um Lucian zu retten. Beliar wird ihn sicher umbringen. Vielleicht geschieht es genau in diesem Augenblick.«
Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie wusste nun, dass sie nicht mehr ohne ihren Ritter leben wollte, sie wusste es mit jeder Faser ihres Herzens. Ohne Lucians Lachen, seinen Mut und den Kummer, den er der Welt nicht zeigte, ohne seine warmen Atemzüge, wenn er eine Armlänge von ihr entfernt schlief, ergab nichts mehr einen Sinn.
Die Göttin der Hexen runzelte die Stirn. »Du solltest das Siegel des Sommers nicht aus den Augen lassen, denn du bist von jetzt an seine Hüterin. Es ist deine Gabe, Ravenna. Deine ureigene Macht.«
»Sie ist hier.« Ravenna konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. »Meine Gabe, meine ich. Wie könnte ich meine Hexenkraft je verlieren? Ich erbte sie doch von Melisende. Von Mémé. Und von dir.«
Finster blickte Morrigan auf sie herab. Sie war auf geradezu einschüchternde Weise größer als Ravenna, sie war die Größte aller Magierinnen, die sie je getroffen hatte. Dann verschwand der strenge Ausdruck und machte einem Lächeln Platz, das sich bis in die Fältchen um Mund und Augenwinkel legte. Ganz zuletzt wurde die Höhle von einem herzhaften Lachen erschüttert.
»Ihr Hexen aus der Zukunft – nie um eine Antwort verlegen, wie? Ganz recht, wie könntest du deine Macht je verlieren!«, grinste Morrigan. »Sie wurde dir in die Wiege gelegt und dank deiner Lehrmeisterinnen auf dem Odilienberg hat sie sich nun in dir entfaltet. Deshalb erkenne ich dich als eine der Sieben Magierinnen an und bitte dich, im geheimen Zirkel der Geweihten zu wirken.«
Damit war es auch schon geschehen – Ravennas Einweihung in den Kreis der Hexen war vollzogen. Morrigan schlang die Arme um sie und presste sie einige Herzschläge an sich. Ihre Umarmung war kühl wie eine Abendbrise, der Fellumhang verströmte den Geruch von Wind, Kiefernharz und Regen.
»Und nun geh!«, flüsterte sie Ravenna ins Ohr. »Geh und rette deinen Ritter! Vergiss eines nicht, Ravenna: Beliar besitzt keine eigene Macht. Seine Magie entspringt nur den Kräften, die er anderen raubt. Der Teufel ist nichts weiter als eine Spiegelung über der Hitze eines Feuers, er ist
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