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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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gab: Sie befand sich in einem tiefen Graben. Der Boden war mit Gras bewachsen, die Wände felsig und steil und in ihrem Rücken lagen die Grundmauern, auf denen sich die Wohngebäude der Burg erhoben. Vom Tor des Burgfrieds führte eine Zugbrücke über den Graben, an Ketten hängend und von einem Holzgeländer gesichert. In den Ritzen zwischen den Bohlen sah Ravenna die Schuhsohlen der Wächter, die sich auf der Brücke postiert hatten. Mit aufgepflanzten Hellebarden und unbewegten Gesichtern starrten die Männer ins Leere.
    »He! Hallo, ihr da oben!« Sie schwenkte die Arme über dem Kopf. »Kann mir vielleicht jemand hier heraushelfen? Ich bin wohl etwas … vom Weg abgekommen.«
    Der Hauptmann der Ehrenwache drehte den Kopf und schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Es gibt einen Grund, weshalb Ihr hier seid«, sagte er. »Beliar möchte seinen Gästen zum Abschluss ein Spektakel gönnen. Geduldet Euch noch einen Augenblick. Es dauert nicht mehr lange.« Dann nahm er wieder Haltung an.
    Ein Spektakel? Was denn für ein Spektakel, wunderte Ravenna sich. Sie ließ den Blick über die abschüssige Wiese, den zerklüfteten Graben und die Mauern der Festung gleiten. Als in der Burg Stimmen erklangen, reckte sie den Hals. Beliar und seine Gäste traten ins Freie. Zu zweit und zu dritt schritten die Besucher über die Brücke, in angeregte Gespräche vertieft. Ihre Schritte klapperten auf den Holzplanken. Viele der Krieger waren schwer bewaffnet – nicht gerade das, was man von einer sommerlichen Abendgesellschaft erwartete.
    Wie eine in Panik geratene Katze lief Ravenna unter der Brücke hin und her, während Barone, Grafen und Edelfrauen aus dem Burgtor kamen. Sie gingen zügig über die Brücke und reihten sich anschließend jenseits der Felsmauer auf, von wo aus sie den Graben gut überblicken konnten. Immer wieder zeigte man mit dem Finger auf sie.
    Velasco ging hinter den Adeligen. Er hinkte leicht von dem Stich, den sie ihm versetzt hatte, doch schien ihn weniger die Wunde zu plagen als die gestörte Funktion der Knorpel und Sehnen. Der Hexer von Carcasson verspürte keinen Schmerz. Er schritt über die Holzplanken und plauderte mit einem jüngeren Mann. Als er Ravenna erblickte, blieb er kurz stehen, legte die Hand auf das Geländer und nickte zu ihr herunter. »Deine Lage hat sich noch weiter verschlechtert«, stellte er fest. »Das Spiel hat noch nicht einmal begonnen, doch es ist davon auszugehen, dass es ein unterhaltsamer Abend wird.«
    Der junge Mann, der sich an Velascos Seite über den Graben beugte, lachte. Üppige Locken fielen ihm auf die Schultern, eine Haarpracht, die jede Frau vor Neid erblassen ließ. Sein Gesicht wirkte mädchenhaft. »Ist das die Hexe, der Euer Sohn verfallen ist?«, fragte er.
    Velasco verzog den Mund. »Das Verfallensein wird ihm schon noch vergehen«, murmelte er. »Keine Sorge, Damian, Lucian wird die Frau nehmen, die ich für ihn auswähle.«
    Der Rauschgoldengel grinste. Er warf Ravenna noch einen Blick zu. Dann gingen sie weiter.
    Ravenna ballte die Fäuste. Sie begriff nun, dass man sie nur aus dem Kerker gelassen hatte, damit sich der Marquis und seine Gäste an ihrem Anblick ergötzen konnten. Raunend und tuschelnd versammelte sich die Menge auf der anderen Seite des Burggrabens. Man zeigte immer wieder mit dem Finger auf sie und wartete – doch worauf?
    Zuletzt brachte man Lucian. Bei seinem Anblick verging Ravenna fast vor Angst, und ihre Knie fingen an zu zittern. Man hatte ihm die Rüstung ausgezogen und nur das Unterzeug gelassen. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Die Männer, die ihn über die Brücke führten, waren größer, breiter und eindeutig finsterer als er. Ravenna konnte nicht erkennen, wie schwer er verletzt war, denn er sagte keinen Ton, wehrte sich nicht und hielt den Kopf gesenkt.
    Mit Herzklopfen rannte sie unter der Zugbrücke entlang. »Lucian! Lucian!«
    Ein Ruck ging durch ihn. Er fuhr auf, warf sich gegen seine Wächter und kam von einem Mann los. Seitlich taumelte er gegen das Brückengeländer.
    »Ravenna!«
    Sie starrten sich an – sie unten im Graben mit staubigem Hexenrock und seinem Schwert in der Hand und er oben auf der Brücke. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, als sie erkannte, dass er die Jeans trug, die er von der Flucht aus der Zukunft mitgebracht hatte – das Beinkleid, das beim Reiten so bequem war. Das Leinenhemd hing ihm unordentlich über den Gürtel, Haarsträhnen fielen ihm ins Gesicht und auf

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