Die Hexen - Roman
seiner linken Wange prangte ein Bluterguss.
»Lucian!«
»Ravenna! Das ist der Bärengraben! Hier gibt es …«
Einer der Wächter packte ihn am Kragen, riss ihn herum und holte mit der Faust aus, doch Lucian war schneller: Er duckte sich und rammte dem Mann den Kopf in die Magengrube, so dass der Gegner rückwärts in das Brückengeländer krachte. Es gab ein kurzes Gerangel, dann hatten ihn die Wächter wieder fest im Griff und drückten ihm den Kopf nach unten.
»Ravenna!« Sein Schrei klang gequält. »Pass auf … hinter dir!«
Mit dem Schwert in der Faust wirbelte sie herum.
Ein eisgrauer Bär stürmte auf sie zu. Er war zottig, riesig und wütend. Ravenna stöhnte und wich bis an die Grundmauern der Burg zurück. Von der Brücke hörte sie Lucians warnende Schreie. Kurz bevor das Tier sie überrannte und mit voller Wucht zu Boden drückte, spielten ihr die Sinne einen Streich, denn vor lauter Angst sah sie die Umrisse des Bären als Funkeln gegen den Himmel.
Ihr Hinterkopf schlug hart auf dem Boden auf, der Schmerz raubte ihr fast die Besinnung. Der Bär wühlte die Krallen in ihre Gewänder und schleuderte sie wie ein Stück Treibholz umher. Die Menge stöhnte auf – auf dieses Spektakel hatten Beliars Gäste gewartet. Der Bär schnaubte und riss mit den Pranken die Grasnabe auf, die Krallen waren so lang wie Ravennas Hand. Gleich darauf packte er sie wieder. Sie hörte Lucians Flüche, die wie ein Schluchzen klangen, und spürte, dass das Raubtier sie quer durch den Graben schleifte.
Ihre Glieder wurden durchgeschüttelt, sie prallte immer wieder gegen Felsen und riss sich die Haut auf. Das Schwert blieb irgendwo unter der Brücke liegen. Der Raubtiergestank nahm ihr den Atem. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihr Bein, als sie sich unter großer Mühe aufrichtete und mit beiden Fäusten auf die Schnauze des Bären einschlug. Die Menge oberhalb des Grabens tobte wie bei einem Fußballspiel.
Am Rand ihres Gesichtsfelds sah Ravenna die Menge auf dem Kopf stehen, sie sah Lucian, der zwischen seinen Wächtern auf die Knie gesunken war, und die schwarze Marquise, die das Schauspiel mit unbewegtem Gesicht verfolgte. Dann fiel ein Schatten über sie und sie begriff, dass der Bär sie in die Höhle zerrte.
Ächzend drehte sie sich um und versuchte zu entkommen, doch das Raubtier erdrückte sie fast mit seinen Pranken. Lauernd starrten die kleinen Augen zum Ausgang. Wenn die Rufe der Menge zu sehr anschwollen, stieß der Bär ein Brüllen aus, von dem die Wände erzitterten. Geifer troff ihm aus dem Maul.
Ravenna schloss die Augen. Es war vorbei, das war das Ende. In den wenigen Augenblicken, in denen sie unter dem wutschnaubenden Bären lag, fielen ihr eine Menge Dinge ein, die sie gerne noch tun wollte, bevor sie starb, doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihr. Aus dieser Höhle würde sie niemals lebend entkommen.
Sie merkte zuerst nicht, dass der Druck auf ihr Hüftgelenk verschwunden war. Sie zitterte so heftig, dass es ihr schwerfiel, sich aufzurichten. Ihre Zähne klapperten vor Furcht, ihre Kleider waren zerfetzt. Blut lief ihr das Bein hinab, doch statt der vielen Wunden fühlte sie nur einen einzigen, großen Schmerz.
Der Bär war fort. Anstelle des zottigen Schattens kauerte eine Frau in der Höhle. Die Unbekannte war in einen Mantel gehüllt, der bei jeder Bewegung frostig glitzerte. Ihre Füße steckten in Fellstiefeln und die Haarflechten waren zu einer eisgrauen Frisur aufgetürmt. Die Frau lächelte.
Wieso lächelt sie?, schoss es Ravenna durch den Kopf. In diesem erbärmlichen, rattenkalten Verlies gab es nicht das Geringste zu lachen.
»Wo ist der Bär?«, flüsterte sie. Vor Angst hatte sie so laut geschrien, dass ihre Kehle schmerzte. Mit der flachen Hand wischte sie sich das Blut vom Kinn, das in einem dünnen Rinnsal aus ihren Mundwinkeln floss, seit sie sich auf die Zunge gebissen hatte.
»Da war nie ein Bär. Höchstens eine Bärin, aber auch das würde ich bezweifeln. Im Zwielicht irrt man sich leicht, musst du wissen.« Während die Unbekannte sprach, spähte sie ins Freie. »Aber es ist nicht schlecht, dass du zu schreien aufgehört hast, denn sonst gehen sie nie.«
Sie deutete auf die Menschenmenge jenseits des Grabens. Die meisten Zuschauer zögerten noch eine Weile, als fürchteten sie, das Beste zu verpassen. Erst als Beliar in die Hände klatschte und die Gäste mit lauter Stimme in den Garten rief, zerstreute sich die Menge. Offenbar waren die Zuschauer
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