Die Hexen - Roman
Wohnung eingedrungen, hatte sie zu Boden gestoßen und verlangt, dass sie sich auszog. Anfangs zögerte sie, doch mit vorgehaltenem Messer zwang sie der Eindringling, die Bluse aufzuknöpfen und Kleidungsstück um Kleidungsstück abzustreifen, ohne dass sie ihm dabei je ins Gesicht sah. Er blieb die ganze Zeit hinter ihr und ritzte ihr seine Befehle in die Haut.
Mit jedem Stück Stoff, das zu Boden fiel, fühlte sie sich schutzloser, nackter, verletzlicher. Zuletzt hatte er sie gezwungen, sich hinzuknien. Dann leerte er ihre Geldbörse aus und warf allen Schmuck, den er finden konnte, auf den Boden. Er riss die Schubladen aus den Schränken. In einem klingenden Regen prasselten die Schere, der Korkenzieher, das Besteck und die Schöpfkelle zu Boden, während Ravenna reglos auf den Dielen kauerte, die Arme über den Kopf gelegt, und versuchte, an nichts zu denken.
In der Fantasie ist es viel bedrohlicher, hatte Corbeau später immer wieder zu ihr gesagt. Die Dinge, die sich nur in Gedanken abspielen, quälen uns viel ärger als die Wirklichkeit, denn wir werden die Erinnerung nur schwer wieder los.
Er sollte Recht behalten. Ravenna erstarrte zu Eis, als der Eindringling auch die Nägel aus den Wänden riss und das Fenster einschlug, um an die eiserne Einfassung zu kommen. Dann hatte er sie mit immer rascher werdenden Schritten umrundet und in einer uralten Sprache Verse gemurmelt. Die Küche begann sich vor ihren Augen zu drehen, das Metall schmolz zu einem Quecksilberfluss, der unter den Beschwörungen des Hexers Form annahm. Ein Kreis entstand, der sich langsam um sie schloss und mit Bahnen aus flüssigem Silber durchzogen war. Doch die ganze Zeit über starrte sie nur auf das Messer, das der Fremde in der Faust hielt.
»Du gehörst zu uns, ob du willst oder nicht«, hatte er ihr schließlich ins Ohr geraunt, nachdem er erneut hinter sie getreten war. »Wenn unser Meister ruft, wirst du ihm gehorchen.«
Sie wusste, wie sich ein Opfer fühlte. Velasco war Herr der Lage, er hatte ihre Angststarre ausgekostet – es war, als würde er nun unter ihrem Dach hausen, während sie nur ein nackter, weißer Schatten auf dem Fußboden war. Und genauso blieb es von diesem Moment an: Sobald sie die Wohnung betrat, sah sie nur noch ihn. Velasco war in ihren Geist eingedrungen, in ihre Gedanken, in ihre Träume.
Sie konnte nicht fassen, dass er plötzlich verschwunden war. Wie lange hatte sie in dem Bannkreis gekniet, nachdem er gegangen war, ohne sich zu rühren? Eine oder zwei Stunden? Oder bis zum Morgengrauen? Sie wusste es nicht mehr. Es war jener Teil des Überfalls, der sie am meisten quälte: die Demütigung, die nur in ihrem Kopf stattfand. Die Angst, die keine greifbare Ursache mehr hatte. Der Verfolgungswahn, der mit dem Einbruch kam.
Jetzt endlich verstand sie, weshalb Yvonne von ihren Schilderungen so merkwürdig fasziniert war. Eine morbide Begeisterung hatte ihre Schwester damals erfasst, weil von schwarzer Magie die Rede war. Yvonne war sofort einverstanden gewesen, als Ravenna sie bat, bei ihr einzuziehen. Von dem Ring, der sich in den Fußboden gebrannt hatte und trotz allen Scheuerns und Schleifens und einer dicken Schicht Parkettöl immer noch zu sehen war, wurde sie immer wieder angezogen. Oft hielt sie sich an der Stelle auf und behauptete, einen Gegenzauber zu wirken.
Ravenna ließ die Stirn auf die Knie sinken. Auch wenn sie mit knapper Not entkommen war: Der Hexer hatte Beliar schließlich doch ein Opfer in die Arme getrieben, das den Kreis der vier Fürsten ergänzte. Aber es war nicht sie, wie ursprünglich vorgesehen.
Sondern ihre Schwester.
Sie erwachte davon, dass sie träumte, wie sie fiel. Mit einem panischen Atemzug schrak sie hoch und griff nach dem Schwert. Da merkte sie, wie sich das Gitter in ihrem Rücken bewegte. Von einem unsichtbaren Mechanismus bewegt, wurde es hochgezogen, und als sie sich vorbeugte, entdeckte sie die beiden Schienen, in denen der Rahmen verlief.
Mit zitternden Fingern brachte Ravenna ihre Kleider in Ordnung. Das Aufstehen fiel ihr schwer, denn sie hatte am ganzen Körper Prellungen und blaue Flecken. Sie atmete tief durch und kroch ins Freie. Dort war die Luft deutlich wärmer als in der Felsenkammer. Es duftete nach einem milden Sommerabend, der Himmel war wie aus violettem Glas. Ravenna erschrak, als sie merkte, wie spät es war – kurz vor Sonnenuntergang. Sie wusste nicht, weshalb man sie freigelassen hatte, doch sie erkannte rasch, dass es keinen Ausweg
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