Die Hexen - Roman
vorn, bis ihre Stirn die kühle Erde berührte. Ihr Atem ging stoßweise. Die Kämpfe, die rings um sie ausgetragen wurden, interessierten sie nicht länger, sie wollte nicht wissen, wie es auf dem Berggipfel stand. Nicht einmal die ewige Fehde zwischen Lucian und seinem Vater ging sie noch etwas an. Sie wollte nur noch einmal diese eine Stunde haben, in der sie ihre kleine Schwester noch hätte retten können.
Ein Pferd schnaubte in der Nähe und sie fuhr hoch. Die Trommeln waren verstummt, Waffengeklirr und kriegerische Schreie überlagerten jede Sekunde, die seit ihrem Eintreffen vergangen war.
Auf der abschüssigen Wiese kämpften zwei Gegner miteinander. Verbissen schlugen sie aufeinander ein, blind und taub für alles, was rings um sie herum geschah. Doch Lucian taumelte längst, sobald er einen Ausfallschritt machte, und wenn Velasco den Arm hob, schienen Bleigewichte daran zu hängen.
Zwischen den Menhiren tauchte der Fürst mit den geölten Locken auf. Damian zerrte vier Pferde hinter sich her: einen Schimmel, einen Rotfuchs, einen Rappen und ein Pferd, dessen Fell so hell war wie schmutziger Schnee.
Oriana rannte auf das erste Tier zu und zerrte sich in den Sattel. Als sie die Zügel anzog, bäumte sich das Pferd auf. Nebel dampfte aus seiner Mähne und die Augen leuchteten fahl wie Mondlicht. Die Leibwächterin gab dem Tier die Sporen und jagte quer durch den Steinkreis.
Benommen starrte Ravenna auf den verschwimmenden Lichtpunkt. Die apokalyptischen Reiter – deshalb hatte Beliar vier Fürsten ausgewählt! Sie waren die todbringenden Zeichen, die Boten des kommenden Weltuntergangs. Ravenna kannte das Motiv von zahlreichen Bildern, Glasfenstern und Skulpturen, doch eine reale Begegnung mit ihnen war etwas ganz anderes. Sie wurde vom Schrecken erfasst und sprang auf.
»Yvonne!«
Ihre Schwester schwang sich in den Sattel des Rotfuchses, Damian reichte ihr die Zügel. Sobald Yvonne das Pferd mit dem Elfenbeinstab berührte, rann kaltes Elmsfeuer über Mähne und Schweif, und das Pferd tat einen Satz nach vorn.
»Haltet sie auf! Sie darf nicht entkommen!«
Der Schrei gellte aus mehreren Mündern. Fluchend befreite sich Ramon von der Stahlfeder, die sich zwischen Beinröhre und Kniebuckel seiner Rüstung verfangen hatte, und Ravenna fing an zu laufen. Alarmiert drehte sich Lucian zu seinen Freunden um, die über den kahlen Berggipfel rannten und die Arme warnend in der Luft schwenkten.
Yvonne jagte mit ihrem Rotfuchs genau auf ihn zu. Er musste sich mit einem Satz in Sicherheit bringen, wenn er nicht unter die Hufe geraten wollte. Funkenbahnen knisterten, als Yvonne an ihm vorbeisprengte. Wie eine fallende Sternschnuppe verschwanden Ross und Reiterin in der Nacht.
»Pass auf!«
Diesmal war es Ramon, der aus Leibeskräften brüllte. Velasco hatte seine Chance sofort erkannt. Als er hinter Lucians Schulter auftauchte, entstand erneut jene gespenstische Dopplung: derselbe Mann, älter und jünger, wie eine Spiegelung der Zeit. Umhüllt vom wehenden Umhang des Hexers, wirkten Vater und Sohn wie eine einzige Gestalt – ein Ungeheuer mit zwei Köpfen.
Lucian drehte sich erst gar nicht um. Er duckte sich und rammte den Schwertgriff nach hinten. Die beiden Männer streiften einander eher, als dass sie hart zusammenprallten, und dann rollte Velasco sich über die Schulter ab. Im nächsten Augenblick war er wieder auf den Beinen und warf sich in den Sattel des wartenden Falben. Unbarmherzig gab er dem Tier die Sporen und jagte über den Berg, ohne das Schwert fortzustecken.
Pfeile zischten durch die Dunkelheit. Der Falbe setzte in einem flachen Satz über einen Dolmen. Josces Meute verfolgte ihn, das Gebell verklang im Wald.
»Lass es! Lass es sein!«, brüllten Lucian und Ramon gleichzeitig, während sie auf den letzten der vier Reiter zu rannten. Hektisch versuchte Damian, auf den Rappen zu steigen, doch das Tier scheute und drehte sich im Kreis. Wasser triefte aus der Mähne, Schlamm spritzte unter den Hufen auf, wo eben noch trockene Wiese gewesen war. Als Lucian nach dem Lockenschopf griff, ließ dieser die Zügel schießen, doch statt sich, was vernünftig gewesen wäre, auf der Stelle zu ergeben, griff er nach der Klinge, die unter dem Sattelblatt hing.
Und dann ging alles furchtbar schnell. Ravenna sah nur, wie sich Damian auf ihren jungen Ritter stürzte und wie beide Männer mit den Oberkörpern zusammenprallten. Plötzlich ragten die Schwerter aus ihren Rücken hervor, doch bevor sie, zu Tode
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