Die Hexen - Roman
»Haare sind beinahe so mächtig wie Blut oder geheime Namen und …« An dieser Stelle brach er ab und starrte Ravenna herausfordernd an. »Was ist? Weshalb lacht Ihr?«
»Es tut mir leid … ehrlich. Aber ich kann nicht … was heißt hier gemein …« Sie musste schon wieder loslachen. Der fehlende Schlaf und die Schrecken, die sie in den vergangenen vierundzwanzig Stunden durchgestanden hatte, waren zu viel für sie. Sie lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen und dann lehnte sie sich schluchzend an ihn. Lucian hielt sie in den Armen, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Wann bist du meiner Schwester eigentlich so nah gekommen, dass sie dir die Haare stutzen konnte?«, murmelte sie und wischte sich über das Geischt.
Lucian nahm einen tiefen Atemzug. »Das ist eine lange Geschichte.«
Ravenna blickte zu ihm auf. »Ich habe die ganze Nacht Zeit.«
Endlich huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Es bewirkte, dass auch die letzte Ähnlichkeit mit Velasco verschwand. »Dann sollten wir es uns etwas bequemer machen«, schlug er vor. Behutsam teilte er ihren Mantel mit beiden Händen, umfasste sie an der Taille und zog sie zu sich heran. Geschickt lösten seine Finger die Schnallen des Gurtzeugs. »Ich glaube, das gehört mir«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Ravenna hielt seine Hände fest und führte sie von den Lederriemen weiter zu den Schnüren und Bändern ihres Kleids. Seine Hände fanden den Weg unter ihre Gewänder von ganz allein, bis es kein störendes St ück Stoff mehr zwischen ihnen gab. Mit einem Schulterzucken streifte Ravenna den Mantel ab und warf ihn ins Gras. Sie zog Lucian mit sich nach unten, und er schien sich nicht daran zu stören, dass ihr das Kleid verrutschte – im Gegenteil. Er küsste ihre mond beschienene Schulter und den Ansatz ihrer Brüste, ließ die Lippen über ihren Hals wandern, bis sein Mund den Ihren fand. Dann schlug er die Augen auf.
Der Zauber zerstob. Lucian setzte sich auf und rieb mit der Hand über beide Augen.
»Was ist los?« Betroffen setzte sich Ravenna auf. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
Der Ritter stieß einen gepressten Seufzer aus. »Es tut mir leid. Ich kann nicht mit Euch zusammensein. Nicht so. Nicht heute Nacht.«
Fassungslos schaute Ravenna ihn an und breitete fragend die Hände aus. »Ich dachte, gerade darauf käme es an: wir beide, der Mondschein, der alte Steinekreis. Und es ist Mittsommer.«
»Ja. Ja doch.« Lucian verschränkte die Finger im Nacken und stützte die Ellbogen auf die Knie. In dieser Haltung verharrte er eine ganze Weile. »Es ist meine Schuld«, murmelte er schließlich. Er griff nach dem Leinenhemd und streifte es über. Er fror. Seine Rüstung und sein Mantel lagen noch auf dem Hœnkungsberg und der Wind war kalt.
»Was ist los?«, fragte Ravenna. »Meinst du nicht, du könntest mir alles sagen? Geht es um Beliar? Um das, was du auf der Festung durchgemacht hast? Glaub mir, ich war verrückt vor Sorge, als ich dich nicht finden konnte. Was wollte dein Vater von dir? Yvonne sagte, Velasco hätte dir eine Menge Gold angeboten. Und sogar eine Burg.«
Sie hatte nicht mit der Heftigkeit gerechnet, mit der Lucian hochfuhr. »Das wollt Ihr nicht wissen«, fauchte er sie an. »Was zwischen Velasco und mir geschieht, ist alleine meine Sache.«
Schweigend zerrte Ravenna an den Schnüren des Mieders. Sie war noch immer ungeübt darin, sich im Stil von Lucians Zeitalter zu kleiden. »Doch, ich will das wissen«, sagte sie leise. »Nach all dem, was war – meinst du nicht, ich hätte eine ehrliche Antwort verdient?«
Lucian zog sich noch weiter von ihr zurück, seine Stimme klang hart. »Soll ich Euch sagen, was ehrlich gewesen wäre? Constantin hätte den Leichnam meines Vaters verbrennen sollen, wie er es ursprünglich vorhatte. Und den meinigen dazu.«
Unwillkürlich presste Ravenna die Hände auf die Ohren. Es war nicht, was sie erwartet hatte, und sie wollte tatsächlich nicht noch mehr erfahren. War es nicht genug, dass sie gerade ihre Schwester verloren hatte? Doch Lucian fasste sie an den Handgelenken und drückte ihr die Arme nach unten.
»Hört mir ganz genau zu, Ravenna! Ihr müsst wissen, wer ich bin, bevor Ihr Euch entscheidet«, stieß er hervor. »Ist Euch denn nicht aufgefallen, wie ähnlich wir uns sind, Velasco und ich? Manchmal weiß ich nicht mehr, wer von uns beiden der Überlebende ist und wer der geköpfte Verfolger.« Grauen spiegelte sich in seinen Zügen und ein verzweifelter Ausdruck trat in
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