Die Hexen - Roman
erleichtert auf und fingen an durcheinanderzureden.
»Das war unglaublich!«, stieß Aveline hervor. Ihr Kranz aus Vogelbeeren, Kornblumen und Johanniskraut war in Auflösung begriffen, die Haare quollen wirr unter dem schief sitzenden Schmuck hervor. »Das war … wie sagt man in deiner Zeit dazu? Du hast Beliar einfach weggefegt!«
»Ein eleganter Rätselspruch«, grinste Norani. »Und dazu eine Opferrune. Lernt man so was in der Zukunft?«
»Unglaublich – allerdings«, brummte Nevere. Sie nestelte an Ravennas Gewändern, um ihr mehr Luft zu verschaffen, und fühlte ihren Puls. »Beliar hat sie fast umgebracht. Ein Wunder, dass sie noch atmet. Gibt mir jemand meine Tasche?«
Die letzten Worte waren an die Umstehenden gerichtet, eine dunkle Masse aus Köpfen und Schultern. Ravenna ließ den Blick über die Menge gleiten, doch von den vorbeigleitenden Schatten wurde ihr übel.
»Ob sie uns überhaupt hört?«, meinte Josce zweifelnd. Der Zopf der Jägerin baumelte Ravenna ins Gesicht, als sie sich vorbeugte und ihr besorgt in die Augen sah. Esmee fasste sie beruhigend an der Schulter. »Gewiss hört sie uns. Sieh nur, wie ihr Blick von einer zur nächsten wandert. Sie muss nur die Sprache wiederfinden.«
Noranis Augen waren zu golden glühenden Schlitzen zusammengezogen, das Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkte wie eine Maske aus einem fernen Land. »Morrigan hat sie anerkannt, sonst hätte ihr Siegel den Strom niemals zum Fließen gebracht. Ich bin gespannt, wie das wohl gegangen ist.«
Ravenna leckte sich über die aufgesprungenen Lippen und woll te Erklärungen abgeben, doch sie brachte nur ein heiseres Krächzen zustande. Die magischen Flammen hatten ihren Körper vollkommen ausgedörrt, die Haut an ihren Armen und Beinen fühlte sich an wie P ergamentpapier. Sie schloss die Augen – und öffnete sie wieder, als ihr ein kühles Tuch auf die Stirn gelegt wurde. Nevere flößte ihr Wasser ein, das mit einem Trank vermischt war. Der erste Schluck brannte wie Feuer. Dann breitete sich eine angenehme Wärme in ihr aus und ein Teil der Schmerzen verging.
Mit der Hilfe der Magierinnen setzte sie sich auf. »Mavelle«, stieß sie hervor und starrte in die unvollständige Runde der Hexen. »Wo ist sie? Was ist geschehen? Was hat Beliar ihr angetan?«
»Keine Angst!«, brummte Nevere. Bis zum Ellenbogen wühlte sie in ihrer Tasche. »Sie ist unversehrt, doch der Stoß hat dazu geführt, dass die Wehen einsetzten. Ich schätze, bei Sonnenaufgang werden wir ein neues Mitglied von Constantins Tafelrunde begrüßen.«
Sie nickte zu einer Reihe von Zelten hinüber, die am Saum des Waldes standen. Pferde waren in der Nähe angepflockt, Kessel dampften über der Glut und eine Menschenmenge bewegte sich mit Laternen in den Händen durch das Lager. Der Anblick war so friedlich und alltäglich, dass Ravenna Tränen in die Augen traten.
»Lucian«, stieß sie hervor. Es war die zweite Frage, die ihr auf der Seele brannte, eine schreckliche Frage, wenn es darauf keine beruhigende Antwort gab.
Mit raschelnden Gewändern erhoben sich die Sieben und gaben den Blick auf den Kreis aus Menhiren frei, der nun vom Mondschein und von den glimmenden Siegeln erhellt wurde. Der junge Ritter stand am Rand des Steinrings. Seine Gestalt war vom Mondlicht beschienen, und er hielt das Schwert noch immer in der Hand, als habe er vergessen, es wegzustecken. Die Spitze zeigte zu Boden und in den Spiralen auf der Klinge wirbelte kaltes Regenbogenfeuer. So starrte er auf die fernen Berge. Hinter ihm kniete Ramon neben einer Gestalt, die regungslos am Boden lag. Es war der Letzte der vier Fürsten – derjenige, dem die Flucht nicht gelungen war.
Mit Josces Hilfe stand Ravenna auf. »Ich möchte allein mit ihm sein«, bat sie. Zögernd blickte die Jägerin sie an, doch dann winkte sie den anderen. Die Sieben und die jungen Hexen verließen den Steinkreis.
Ravennas Beine zitterten so sehr, dass sie schwankte, als sie auf Lucian zuging. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung und wollte aus seinem Mund hören, dass es ihm gutging, doch als Ramon sie bemerkte und hastig herbeiwinkte, ging sie zu ihm. Der Lockenschopf hielt ihn mit deutlich mehr Kraft am Oberarm gepackt, als einem Sterbenden zuzutrauen war. »Er möchte mit Euch sprechen«, sagte der junge Ritter. »Werdet Ihr ihn anhören?«
»Kommt darauf an, was er zu sagen hat«, meinte Ravenna. Mit schmerzenden Gliedern sank sie in die Hocke. Gleichzeitig hörte sie, wie Lucian hinter
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