Die Hexen - Roman
Bauwerk auf dem Berg glich einem Triskel mit einem großen Tanzplatz in der Mitte.
Langsam wanderte sie zum inneren Ring zurück. Sie hatte versucht zu schlafen, doch die Ereignisse der letzten Stunden hatten sie zu sehr aufgewühlt und nun war sie über den Punkt hinweg, an dem die Müdigkeit in ihren Knochen schmerzte. Sie fühlte sich seltsam leicht und hellwach, eine Nachwirkung des Heilmittels, das Nevere ihr eingeflöst hatte. Vielleicht lag es auch an der Magie, mit der die Bergkuppe aufgeladen war, dass sie nur noch wenig von den Prellungen und Wunden des Kampfs spürte. Das Gras unter ihren Füßen knisterte, und die Sommernacht roch nach Schafgarbe und Johanniskraut. Das Sternenfeuer hatte dem sanften Silberschein des Mondes Platz gemacht.
Von den Tänzen der Hexen war das Gras im innersten Ring niedergedrückt. Der Platz war inzwischen geräumt worden, und sie war allein. Sie betrachtete die Steine, aus denen der Kreis errichtet worden war. Jeweils zwei Megalithen bildeten eine Einheit mit einer runden Stele in der Mitte. An dieser Stele waren die Siegel befestigt, die nun erloschen waren. Der Abstand zu den Seitensteinen betrug genau eine Handbreit, der Abstand zur nächsten Einheit etwa fünf Schritte und aus sieben solcher Einheiten war der Tanzkreis geformt. Ravenna kannte sich mit den Theorien über den Bau von Megalithanlagen aus, sie hatte darüber gelesen, wie man die tonnenschweren Menhire vor Tausenden von Jahren bewegt hatte. Trotzdem staunte sie über die Genauigkeit, mit der ihre Kollegen aus der Urzeit gearbeitet hatten.
Sie stellte sich in die Mitte des Kreises und legte den Kopf in den Nacken. Es war der perfekte Augenblick und es würde nie wieder eine bessere Gelegenheit geben. Langsam hob sie die Arme.
Diesmal regnete kein Feuer vom Himmel, der Funkenschweif war versiegt und die Nacht lag blau und still über den Bergen und dem Flusstal. Es war das Bild aus ihrem Traum, das sie nachempfand, ihre erste Vision auf dem Odilienberg: eine Frau in einem grauen Mantel, allein in einer Mondnacht.
Sie schämte sich ein bisschen, weil sie Yvonne immer verspottet hatte, sobald diese von Kraftplätzen und magischen Orten zu schwärmen anfing. Jetzt hatte sie allen Grund, ihrer Schwester zu glauben, denn die magische Kraft durchströmte sie bis in die Fingerspitzen.
Als sie ein Rascheln hörte, schlug sie die Augen auf. Lucian stand einige Schritte von ihr entfernt und betrachtete sie. Schnell ließ sie die Arme sinken. Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.
»Was tun wir jetzt?«, fragte sie, um von dem peinlichen Anblick abzulenken, den sie geboten hatte.
»Wir warten.« Der Ritter drehte sich nach Osten und sie verstand: Sie würden warten, bis die Sonne aufging. Bis ein neuer Tag anbrach – der Morgen nach der Schlacht.
Mit beiden Händen schlug sie die Kapuze zurück und ging zu ihm. In ihrem Traum war das Licht erloschen und die Gestalt der Hexe in der Dunkelheit versunken. Die Vision war eine Warnung gewesen. Der Traum hatte ihr gezeigt, was geschehen würde, wenn sie versagte. Oder wenn sie unverrichteter Dinge in ihre Zeit zurückkehrte und Beliar nicht die Stirn bot.
Nichts dergleichen war geschehen. Sie war hier. Sie hatte die Mittsommernacht gefeiert, wie es seit Tausenden von Jahren geschah – bis auf eine letzte Sache.
»Lucian.«
Als sie ihm von hinten die Hände auf die Schultern legte, zuckte er zusammen. Offenbar waren die Wächter auf dem Hœnkungsberg nicht gerade zimperlich mit ihm umgesprungen. Dann legte er den Kopf in den Nacken.
»Das mit deinem Vater tut mir leid«, sagte sie. »Dass Velasco zuletzt doch entwischt ist, meine ich.«
»Er ist nicht entwischt. Zumindest nicht für immer.« Lucian sprach zum Himmel, zu den dünnen Wolken um den Mond und zu den Sternen. »Irgendwann gibt es wieder ein Zusammentreffen. Und wieder einen Kampf.«
Er ließ den Kopf sinken und drehte sich um. »Mir tut es leid, dass Eure Schwester den Weg der dunklen Magie eingeschlagen hat. Wenn es nur eine Möglichkeit gegeben hätte, Yvonne aufzuhalten – ich hätte alles versucht.«
»Ich weiß«, flüsterte Ravenna. Sie griff in die Innentasche des Umhangs, holte das Medaillon hervor und zeigte es ihm auf der geöffneten Handfläche. »Sie hatte eine Haarlocke von dir. Deswegen wirkte der Zauber so stark.«
Lucian fasste nach seinem Nacken. Ein verblüffter und verärgerter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Das ist wirklich gemein«, beschwerte er sich.
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