Die Hexen - Roman
seine Augen. »Constantin hätte mich damals nicht am Leben lassen dürfen«, stieß er hervor. »Er hätte dasselbe Urteil über mich verhängen können wie über meinen Vater. Er hätte es sogar tun müssen, denn ich war schon längst den schwarzen Künsten geweiht. Mein Vater hatte mich Beliar versprochen.«
»Wie bitte?« Unwillkürlich machte sich Ravenna von ihm los.
»Ich bin sein Erstgeborener«, flüsterte Lucian. »Und sein einziger Sohn. Begreift Ihr, was das heißt? Ich hätte dem Marquis dienen sollen, während mein Vater noch tausend Jahre und mehr in seiner Schlucht regierte. Meine Seele war der Preis für Velascos Macht und seine Schuld ist noch immer nicht beglichen. Beliars Schwertstreich sollte mich nicht töten, Ravenna. Er sollte mich zu dem machen, was die anderen Fürsten sind: willenlose Sklaven.«
Ravenna starrte ihn an. Also war die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn mehr als Zufall oder eine Laune der Gene? War es eine Art Vermächtnis, ein magisches Erbe, das Lucian verabscheute und von dem er dennoch nicht loskam, genauso wenig wie sie ihre Gabe verleugnen konnte? Endlich begriff sie, weshalb Lucian den Hexer von Carcassonne mit solchem Hass verfolgte: In Velasco bekämpfte er auch einen Teil von sich selbst.
»Aber du warst doch damals noch ein Kind«, stieß sie hervor. »Ein Junge von acht Jahren. Und du hast deinen Vater wegen seiner Verbrechen gehasst. Das hast du mir selbst erzählt.«
»Was spielt das für eine Rolle, wenn es um schwarze Magie geht?«, stieß Lucian hervor. »Velasco hatte meine Seele längst an den Teufel verkauft. Doch Constantin reagierte genauso wie Ihr. Der König brachte es nicht fertig, ein Kind hinrichten zu lassen, das unter dem Bann seines Vaters stand. Deshalb nahm er mich mit in seine Burg: Er glaubte, dass eine andere Umgebung und eine freundlichere Erziehung Einfluss auf meine Entwicklung hätten, und ich hoffe sehr, dass er sich nicht täuschte. Wirklich erlöst würde ich jedoch erst sein, wenn mich eine Hexe aus dem Zirkel der Sieben als ihren Gefährten erwählt.« An dieser Stelle hielt er inne und blickte Ravenna an. »Versteht Ihr: Ich habe Euch benutzt.«
In ihrer Wange zuckte ein Muskel und auf ihrer Zunge lag plötzlich ein bitterer Geschmack. »Wusste Maeve davon?«, fragte sie.
Lucian nickte. »Ja, sie wusste Bescheid. Sie ist in dieser Welt aufgewachsen und wusste, wie man dem Herrn der Ratten widersteht. Aber Ihr … für Euch war alles so neu. Ihr wart überwältigt von den Entdeckungen auf dem Odilienberg, von dem geheimen Wissen der Sieben. Wenn ich da mit meiner Vergangenheit gekommen wäre …«
»Stattdessen hast du mir lieber den harmlosen jungen Mann vorgespielt. Nett, ein bisschen naiv, aber ein guter Kämpfer. War das der Plan?« Ravenna schaffte es nicht, den Zorn zu unterdrücken, der plötzlich in ihr brodelte. Sie hatte zu viel aufs Spiel gesetzt, um enttäuscht zu werden, hatte ihr Leben und das ihrer Schwester riskiert, um Lucian zu befreien. Es war einfach nicht fair.
Durch die Dunkelheit musterte der Ritter sie. »Es gab keinen Plan«, erwiderte er ruhig. »Und ich wollte Euch gewiss nichts vorspielen. Als ich Euch kennenlernte, damals, als wir zusammen zum Aussichtspunkt ritten und Ihr so selbstsicher über die Zukunft spracht, da …«
Sie wartete. Als er nicht weitersprach, verlor sie die Geduld. »Da – was? Da dachtest du, ich wäre dumm genug, um auf den ganzen Schwindel hereinzufallen? Und als deine Freunde geschlossen vom Turnier zurücktraten, was war das? Ein abgekartetes Spiel? Ramon und die anderen wussten also Bescheid? Hinter meinem Rücken habt ihr euch vermutlich schlappgelacht über das blasse, dürre Hühnchen aus der Zukunft.«
Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme lauter wurde. Lucian stand auf. Die Züge um seinen Mund und sein Kinn wirkten versteinert, als er auf sie herabsah.
»Es tut mir leid, wenn Euch meine Worte schmerzen, doch es ist die Wahrheit, die Ihr von mir gefordert habt. Wie ich Euch bereits sagte: Es gab keine Lüge und keinen Plan. Ich habe mich wirklich in Euch verliebt, Ravenna. Ich dachte, nach Maeves Tod könnte ich nie wieder solche Gefühle empfinden, doch Ihr habt mich eines Besseren belehrt. Was ich Euch vor dem Morgengrauen sagen wollte, ist Folgendes: Ihr könnt Euch noch immer entscheiden. Wenn die Sonne aufgeht, werden Euch die Sieben feierlich in den Zirkel aufnehmen. Ihr könnt die Einweihung ohne Begründung ablehnen. Ihr könnt Euch aber auch
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