Die Hexen - Roman
fertig.«
»Es war auch Malaury, der sagte, man solle verzeihen.« Ravenna stand jetzt so dicht vor ihm, dass sie die Wärme spürte, die Ghosts großer Körper ausstrahlte. In den Minuten vor Sonnenaufgang waren Lucians Augen so dunkel wie Schiefer. »Es tut mir leid. Ich hätte heute Nacht nicht so aufbrausen sollen. Ich hätte zuhören sollen. Ich mache denselben Fehler immer wieder und verletze die Menschen, an denen mir am meisten liegt. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass ich doch noch etwas dazulerne.« Sie grinste schief.
Nachdenklich starrte Lucian sie an. Ohne Rüstung wirkte er schmaler und drahtiger, und als sie zwischen den Bändern, mit denen sein Leinenhemd auf der Brust geschlossen wurde, ihr altes Triskel sah, atmete sie auf.
»Ich hätte Euch von Anfang an reinen Wein einschenken müssen«, gestand er. »Schon bei unserem ersten gemeinsamen Ausritt hätte ich Euch die Wahrheit sagen sollen. Doch ich hatte Angst, dass Ihr mich nie wieder anschauen würdet, wenn Ihr wüsstet, wer ich bin. Der Sohn eines Hexers. Der Waisenjunge aus Carcassonne, den Constantin nur aus Mitleid mit auf seine Burg nahm.«
»Es gibt nichts auf der Welt, das ich lieber anschaue als dich.«
»Wirklich?« Er schien ehrlich überrascht zu sein.
Ravenna nickte. »Wirklich. Und es ist nicht nur das Anschauen, es sind auch die Umarmungen, die Küsse, deine Stimme, dein Lachen … einfach alles an dir. Ich habe mich auch in dich verliebt, Lucian. Ich würde mich immer wieder in dich verlieben, ganz gleich, in welchem Jahrhundert wir uns begegnen.«
Endlich ließ Lucian die silberne Mähne des Pferdes los. Ghost schüttelte sich und fing an zu grasen. Mit zwei Fingern strich der junge Ritter ihr eine Locke aus der Stirn. »Ich möchte nicht, dass Euch etwas zustößt. Ich könnte es nicht ertragen, wenn ich die Schuld an einem weiteren Unglück trüge.«
Ravenna schluckte tapfer. Sie wusste schon, welche Art von Unglück er meinte. Sie hatte es in seinen Erinnerungen gesehen, eingeschlossen in einer schwarzen Perle.
»Du bist nicht schuld«, widersprach sie. »Dein Vater ist der Verrückte von euch beiden, schon vergessen?«
Lucian verzog den Mund, unsicher, was er von dieser Aussage halten sollte. »Die Sonne geht gleich auf«, meinte er. »Wenn Ihr entschlossen seid, heute eine der Sieben zu werden, sollten wir uns beeilen.«
Ravenna seufzte. Dann schlang sie beide Arme um seinen Nacken und verschränkte die Finger fest ineinander.
»Allerdings«, raunte sie. »Das sollten wir.« Dann küsste sie ihn.
Die Hexen erwarteten sie an dem großen Schalenstein. Als Ravenna sich über die graue Granitplatte beugte, erkannte sie, dass die Schalen dieselbe Anordnung hatten wie die Sterne über Morrigans Thron: Sie bildeten die Große Bärin. Jedes Becken war etwa eine Elle breit und eine Handspanne tief und mit Regenwasser vollgelaufen. Als ihr Schatten über die Wasseroberfläche fiel, kam die Erinnerung wie ein Echo: eine junge Frau an einem windigen Tag, bis zum Kinn in eine Regenjacke gepackt. So hatte sie sich zum ersten Mal in einem Beckenstein gesehen. Nun blickte ihr ein ernstes Gesicht entgegen. Die Augen strahlten geheimnisvoll, Stirn und Wangen waren umrahmt von braunen Locken und der Kapuze des Hexenmantels. Auf der Stirn zeigte sich ein glattes, perlmuttgraues Mal: das dritte Auge.
Da ging die Sonne auf und tauchte Ravenna in warmes Licht. Sie blinzelte – und blinzelte wieder, denn neben ihrem Spiegelbild tauchte ein zweites Gesicht auf. Lucian lächelte. Die Hand, mit der er nach ihren Fingern griff, war warm. Sie spürte seinen Arm an ihrem Arm und seine Schulter an der ihren. Er war da. Das war das Einzige, was zählte.
»Seid ihr bereit?«, fragte Aveline. Die beiden Spiegelbilder lösten sich auf, als sie einen Pokal in das Becken tauchte. Tropfend erschien das Gefäß wieder. Das Wasser schmeckte nach Moos und altem Felsen, und es war so kalt, dass Ravennas Zähne schmerzten. Das Morgenlicht glühte auf ihrer Netzhaut und hinterließ einen feurigen Fleck. Sie stand genau zwischen den Menhiren im Nordosten, dort wo die Sonne an Mittsommer aufging.
»Dieser Trank bedeutet, dass du den Kreis der Geweihten einmal vollendet hast«, belehrte Aveline sie. »Es ist Wasser, sonst nichts, denn auf das Lernen folgt das Wissen.« Als sie das sagte, zwinkerte sie Ravenna zu. Wasser, sonst nichts – na klar, dachte Ravenna. Denn dieses Wasser stammte aus einem magischen Becken, das in einen uralten
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