Die Hexen - Roman
drehte er sich um. Ein freundliches Leuchten glitt über sein Gesicht und er streckte die Arme zu einem Willkommen aus. Ravenna grub die Hand in die Tasche und umschloss den Siegelring. Wie Lucian gesagt hatte: Das Siegel gehörte nun ihr. Es war ein Zeichen ihrer Gabe und sie konnte das stürmische und gefährliche Mittelalter jederzeit verlassen. Doch bevor es soweit war, musste sie noch etwas wissen.
»Wer war Velasco?«, fragte sie, sobald sie neben dem König stand. »Ich meine: bevor er zum Hexer wurde. War er da noch ein anderer Mann? Gab es noch einen anderen Charakterzug an ihm?«
Constantin betrachtete sie schweigend. »Was hat dir Lucian denn erzählt?«, fragte er.
Ravenna seufzte und starrte ebenfalls in das dunstige Flusstal hinunter. Nebelschwaden schlängelten sich um ihre Knöchel, aber der Himmel über den Bergen war klar. »Er hasst seinen Vater«, sagte sie leise. »Ich weiß nicht, was jetzt aus uns werden soll. Die Mittsommernacht endet und der Zirkel der Sieben ist wieder geschlossen. Ich werde bald nach Hause zurückkehren müssen.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich schätze, wir sind einfach zu verschieden.«
Der König löste sich von der Stele und spazierte zwischen den Menhiren herum. Mit der Stiefelspitze kickte er ab und zu einen Pferdeapfel oder einen spitzen Stein aus dem Tanzring. Ravenna folgte ihm. Es machte sie rasend, dass er sich für seine Antwort so viel Zeit ließ.
»Es steht Lucian jederzeit frei, dich zu begleiten. Falls es das ist, was du wünschst.« Den letzten Satz fügte Constantin hinzu, als er ihr bestürztes Gesicht sah. »Ich halte ihn nicht zurück. Aber er muss es auch wollen.«
Sie runzelte die Stirn und starrte auf eine zertrampelte Stelle im Gras. Dort hatten Vater und Sohn gekämpft. Der Überlebende und der geköpfte Verfolger – Lucians Worte klangen ihr noch in den Ohren.
»Velasco wird uns verfolgen«, stieß sie hervor. Bis in die Hölle und zurück. Diese letzten Worte fügte sie nur in Gedanken hinzu. Die Vorstellung, dass der Hexer von Carcassone noch einmal durch ihre Welt spuken würde, versetzte sie in Panik.
Constantin umschloss mit seiner Lederfaust ihren Arm. Auf den Stulpen seiner Handschuhe war das Zeichen der Gefährten eingeprägt: der Ring der Geweihten. Dass der König kleiner war als sie, irritierte sie jedes Mal, wenn sie neben ihm stand. Constantin sah nicht aus wie jemand, der mit Argusaugen über die Einhaltung der Gesetze wachte und drastische Urteile über feindliche Burgherren fällte. Doch genau so war es – sie hatte es selbst erlebt.
»Dazu müsste der Hexer erst einmal ein Tor finden. Und eine Magierin, die es für ihn öffnet«, beruhigte er sie. »Keine Sorge, Ravenna, unsere Gegner werden eine Weile brauchen, bis sie sich wieder gesammelt haben. Und was Lucian und seinen Vater angeht: Sie sind sich nur äußerlich ähnlich. Charakterlich sind sie grundverschieden. Das war schon so, bevor all die Dinge auf Velascos Burg in der Schlucht des Bösen geschahen. Velasco hatte schon immer eine Schwäche für … sagen wir einmal: Grenzübertretungen. Lucian dagegen ist das Pflichtbewusstsein in Person.« Plötzlich musste der König lächeln . »Meistens jedenfalls. Und seit er dich getroffen hat, immer weniger. Weißt du, ich kenne ihn wirklich gut. Wenn er Sorgen hat, kommt er zuerst zu mir. Erst kürzlich bat er mich um einen Rat.«
Ravenna schnappte nach Luft. »Und worum ging es?« Eigentlich brauchte sie nicht zu fragen, sie kannte die Antwort längst.
Constantins Miene verdüsterte sich. »Um dich. Genauer gesagt um das, was der Hexer dir in deiner Zeit antat. Offenbar hat sich Velasco seinem Sohn gegenüber mit der Tat gebrüstet, als er ihn auf dem Hœnkungsberg gefangen hielt. Er soll gesagt haben, dass er jede Hexe aufspüren wird, die Lucian gefährlich werden könnte. Doch du besitzt ein Jahrhunderttalent. So sagt man doch, nicht wahr? Lucian fürchtet, dass er dich in Gefahr bringen wird, wenn er bei dir bleibt. Dieser Kampf wird so lange weitergehen, bis einer von beiden gesiegt hat. Und du stehst zwischen ihnen.«
Ravennas Puls jagte in die Höhe. Er wird doch nicht weggeritten sein, ohne mir etwas zu sagen?, dachte sie. Hastig wanderte ihr Blick über den nebligen Waldrand. Sie wurde immer nervöser, weil sie die Silberschimmel nirgends entdeckte.
»Welchen Rat hast du ihm daraufhin gegeben?«, fragte sie.
Der König verschränkte die Arme auf dem Rücken und
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