Die Hexen - Roman
wippte auf den Zehen. Seine Rüstung klirrte leise. »Keinen. Stattdessen habe ich ihm erzählt, was du Esmee an deinem dritten Tag im Konvent vorschlugst. Du warst über Marlons Tod dermaßen entsetzt, dass du verlangtest, ich solle das Turnier absagen und einen der anwesenden Ritter zu Tades Nachfolger bestimmen. Erinnerst du dich?« Constantin schmunzelte, als sie verlegen wurde. »Abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen aufgrund bestehender Vereinbarungen mit der Stadt Straßburg und den Herkunftsburgen meiner Männer vollkommen unmöglich ist, fand ich es einen bemerkenswerten Vorschlag. Und wenn ich damals einen der jungen Ritter hätte wählen müssen, dann Lucian. Niemand sonst. Das habe ich ihm gesagt.«
Langsam atmete Ravenna aus. Mit dem letzten Hauch sagte sie: »Danke«, obwohl sie nicht genau wusste, wofür sie sich bedankte. Vielleicht für Constantins Offenheit, für die Tatsache, dass er von Anfang an an sie geglaubt hatte. Und an Lucian.
Der Himmel im Osten glühte inzwischen wie die Esse einer Schmiede. Die Hexen und die Menschen aus dem Flusstal versammelten sich auf dem Tanzplatz. Auch die Ritter kamen herbei. Sie bildeten einen großen Kreis zwischen den Steinen. Norani wirkte entspannt und zufrieden. Zum ersten Mal, seit Ravenna die Wüstenhexe kannte, trug sie das Haar offen, es glänzte wie Seehundfell. Und es schien ihr nichts auszumachen, dass der Ritter, mit dem sie die Finger verschränkte, auf der einen Seite blendend aussah und auf der anderen Seite so vernarbt und blind war wie die dunkle Seite des Mondes. Mavelle hatte sich ihr Baby im Wolfsfell um den Bauch gebunden. Von allen Anwesenden schien sie den Schlaf am wenigsten zu vermissen.
»Der kleine Kerl hält mich sowieso die ganze Nacht wach«, meinte sie und zeigte mit dem Daumen auf das quäkende Bündel auf ihrer Hüfte.
»Glaub mir, es wird nicht besser, wenn sie älter werden«, murmelte Nevere. Der Stern auf der Stirn der Heilerin leuchtete in mattem Gold. »Wenn ich bloß wüsste, was Marvin wieder ausheckt! Keine Ahnung, warum er diesen Köter aus dem Gasthaus mitgenommen hat oder wo er nun schon wieder steckt.« Da entdeckte sie Ravenna und winkte energisch. »Worauf wartest du noch? Es wird Zeit für deine Einweihung! Komm zum Schalenstein! Die Sonne wird jeden Augenblick aufgehen.«
»Ich … ich kann nicht«, stammelte Ravenna. Dann fing sie an zu laufen.
Auf der Bergkuppe erhob sich erstauntes Gemurmel, aber sie achtete nicht darauf. Hastig schlängelte sie sich zwischen den Menhiren hindurch und schlüpfte durch die Reihen der Zuschauer. Sie wusste nicht, warum sie damals dem Ruf der Hexen gefolgt war. Sie wusste ebensowenig, welche Kraft sie durch die einzelnen Stationen ihrer Ausbildung geführt hatte. Doch sie wusste ganz genau, warum sie im Mittelalter geblieben war.
Lucian stand bei den Pferden. Er hatte die Finger in Ghosts Mähne vergraben und spielte unschlüssig mit dem dichten Haar. Die Schimmel grasten außerhalb der südlichen Spirale. Als Ravenna durch das von Steinen durchsetzte Feld rannte, setzte sich die Herde unruhig in Bewegung und versammelte sich um Lucian.
Ravenna blieb stehen. Vom Laufen und vor Aufregung keuchte sie. Ihre Kapuze war weit zurückgerutscht, das Haar fiel ihr aufgelöst ins Gesicht. Tau durchnässte ihren Rocksaum und ihr Herz hämmerte gegen die Rippen. Sie spürte ganz deutlich: Wenn sie jetzt das Falsche sagte, schwang er sich auf Ghosts blanken Rücken, und sie sah ihn nie wieder.
»Ich habe keine Angst mehr«, rief sie zu ihm hinüber. »Vor deinem Vater, meine ich. Er kann mir nichts mehr anhaben.«
Er ließ die Mähne nicht los. Ghost schnaubte und senkte den Kopf. Ungeduldig tänzelte der Schimmel vor und zurück. »Es ist dumm, sich nicht vor Velasco zu fürchten«, sagte Lucian endlich. »Sehr dumm sogar.«
Ravenna breitete die Hände aus. »Nein, nein, so meine ich es nicht. Was ich sagen wollte, war: Ich habe aufgehört, mich vor ihm zu fürchten. Jetzt, da ich weiß, dass er es war, der in meine Wohnung eingebrochen ist, ist es weniger schlimm. Als wäre der Bann endlich gebrochen. Das ist seltsam, nicht?«
Während sie sprach, ging sie langsam auf den großen Hengst zu. Ghost drehte den Kopf und sah sie an. Weiße Mähnenfransen hingen wie ein Gitter vor seinen Augen.
Lucian seufzte. »Kenne deinen Feind«, murmelte der junge Ritter. »So lautete einer von Malaurys Lieblingsratschlägen. Studiere deinen Gegner, sonst wirst du niemals mit ihm
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