Die Hexen - Roman
Hexenwelt, doch zunächst musste sie genügend Abstand zwischen sich und den Odilienberg bringen, um wieder klar denken zu können.
Aber das Pferd lief nicht schnell genug, um der Wahrheit zu entfliehen.
Hastig krallte Ravenna die Faust in die Mähne des Tieres, als die Stute einen scharfen Schwenk vollführte. Vor ihr lag die Heidenmauer. Im Jahr 1253 war die Umwallung erst wenige Jahrhunderte alt. Als meterhohes Bollwerk riegelte sie den Weg ab und verlief über Kuppen, durch Senken und an Felsen entlang. In ihrer Zeit war der Wall noch immer mehr als zehn Kilometer lang und sie befürchtete, dass es im Mittelalter genauso war. Kein Quader fehlte, und die Holzkeile, die als Klammern zwischen den Steinblöcken saßen, wirkten unverwüstlich. Selbst als Ravenna Willow dicht neben die Mauer lenkte und sich vorsichtig auf den Sattel stellte, fand sie keinen Halt an dem Mauerwerk. Und sie wusste auch, warum: Die Heidenmauer schützte den Konvent der Hexen.
Als sie eine Stelle berührte, an der ein runder Steinbuckel eingelassen war, flammte entlang der Krone plötzlich ein blaues Feuer auf. Hastig zog sie die Hand zurück. Die Flammen wehten lautlos auf der Mauer. Wenn sie die Hand in die Nähe brachte, wurde das Feuer heller und heißer. Zog sie die Finger zurück, sank es in sich zusammen.
Verdammt, dachte Ravenna. Sie verspürte keine Lust auszuprobieren, wie sich das magische Feuer verhielt, wenn sie auf die Mauerkrone kletterte.
Die Stute schnaubte und bewegte sich jäh. »Ruhig, Willow – bleib ruhig.«
Ravenna warf einen Blick über die Schulter. In ruhigem Schritt kam Lucian auf sie zu. Im Schatten unter den Bäumen wirkten seine Gesichtszüge bekümmert. Als Ravenna warnend die Hand hob, zog er die Zügel an und brachte Ghost zum Stehen.
»Herrin, bitte vergebt uns!«, rief er ihr leise zu. »Wir wollten Euch nicht erschrecken oder Euch Böses tun. Es gab einfach keinen anderen Ausweg. Melisende sitzt im Hexenturm zu Straßburg gefangen, und es steht zu befürchten, dass sie ihren Peinigern nach und nach sämtliche Geheimnisse verrät, die der Zirkel der Sieben hütet. Unterdessen erhöhen Beliar und seine Marquise den Druck auf die Stadtherren, denn sie wollen erreichen, dass Constantin beim Rat in Ungnade fällt. Wenn er abdanken muss, wird nicht einmal dieses Bollwerk die Sieben schützen können.«
»Tut mir wirklich leid, das zu hören!«, fauchte Ravenna ihn an. »Aber das ist nicht mein Problem, sondern das von Josce, Aveline und wie sie alle heißen. Ich will zurück in mein eigenes Leben und zu meinen eigenen Schwierigkeiten. Jetzt zeig mir den Weg zum nächsten Tor!«
Es musste Tore in der Mauer geben – in ihrer Zeit gab es diese Durchgänge doch auch.
Aber der junge Ritter schwieg. Wie eine Statue saß Lucian zu Pferd, mit dem Schwert unter dem Knie und den Zügeln in der linken Hand. »Das darf ich nicht«, wiederholte er leise. »Und selbst wenn – ich würde es nicht tun. Ihr seid die Einzige, die Melisendes Platz einnehmen kann. Begreift Ihr denn nicht: Wenn es anders wäre, dann wäre eine andere Frau im Tor erschienen. Aber Ihr seid die Erste nach siebenhundert Jahren, in der die Macht einer Tormagierin in voller Entfaltung wiederkehrt. Und somit ist Beliar tatsächlich auch Euer Problem.«
»Zeig mir das nächste Zeittor!« Geschmeidig glitt Ravenna zurück in den Sattel. Dicht neben Ghost brachte sie die Stute zum Stehen. »Ich befehle es dir!«
Ein trauriges Lächeln huschte über Lucians Züge. »Ihr könnt mir nichts befehlen, denn noch habt Ihr die Einweihung nicht bestanden. Und ich bin nicht befugt, Eure Befehle anzunehmen, denn ich bin nicht Euer Gefährte. Das Beste wird sein, wenn wir zurückreiten. Es ist bald Zeit für das Mittagsmahl.«
Wie kannst du jetzt nur ans Essen denken!, schoss es Ravenna durch den Kopf. Tränen der Wut und Hilflosigkeit strömten ihr über das Gesicht und sie fürchtete, dass sie lächerlich aussah: eine Reiterin mit zorngerötetem, tränennassem Gesicht in einer roten Regenjacke.
»Die Kathedrale – so wie sie dasteht, wird sie wieder abgerissen werden. Später errichtet man einen Turm, der viele Jahrhunderte lang alle anderen Bauwerke des Abendlands überragen wird.« Sie sagte das nur, um Lucian zu erschrecken. Und es gelang: Der junge Ritter erbleichte und vollführte eine abwehrende Geste. Kraftvoll beschrieb seine freie Hand einen Halbkreis, dann schnellte sie nach vorn, als sollte der Ballen einen Stoß abfangen. Magie.
»Ihr
Weitere Kostenlose Bücher