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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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habt das Zweite Gesicht! Wie Melisende seht Ihr, was die Zukunft bringen wird!«, rief Lucian.
    »Ich komme aus der Zukunft«, rief Ravenna verzweifelt. »Aus dem Jahr 2011, falls dir das etwas sagt. In meiner Zeit fliegen die Menschen in stählernen Kapseln durch die Luft, wenn sie auf Reisen gehen. Sie können die Kraft ihrer Gedanken miteinander verknüpfen und sich über Ozeane hinweg unterhalten, als säßen sie am selben Tisch. Und sie wissen, dass die Sterne aus glühenden Gaswolken geboren werden und der Mond nichts weiter als ein lebloser Felsklumpen ist. Hexenkräfte sind nicht länger notwendig. Hörst du überhaupt, was ich sage?«
    Der junge Ritter war aus dem Sattel geglitten. Hastig sank er auf ein Knie und verbeugte sich so tief vor ihr, dass seine Stirn beinahe den Waldboden berührte. »Wenn das wahr ist – und daran zweifle ich nicht –, seid Ihr eine noch mächtigere Zauberin als Melisende. Ich bitte Euch inständig, Herrin, kehrt mit mir in den Konvent zurück und durchlauft die Ausbildung zur Magierin. Gegen Eure Gabe vermag nicht einmal der neue Marquis auf dem Hœnkungsberg etwas auszurichten. Er wird unterliegen.«
    Ravenna starrte den knienden Ritter an. Sie wollte ihm Angst einjagen und hatte genau das Gegenteil erreicht. Nun verehrte er sie beinahe wie eine Heilige.
    Als sie schwieg, richtete Lucian sich wieder auf und klopfte sich das Laub von den Knien. Reglos saß sie auf dem Pferd und starrte ihn an. Da schwang er sich in den Sattel, wendete den großen Hengst und ritt langsam auf dem Pfad zurück in Richtung Kloster. Horchte er unauffällig, ob sie ihm folgte? Ärger bekomme ich nur, wenn ich Euch im Wald verliere. Aber das wird nicht geschehen. Mit welcher Selbstsicherheit er das gesagt hatte! Nun wusste Ravenna auch, woher er die Gewissheit nahm: Die Kuppe des Odilienbergs war von einer meterhohen Mauer umschlossen, die mit rätselhafter Magie gesichert war.
    Sie saß in der Falle.
    Als Willow ihren Stallgefährten zwischen den Bäumen verschwinden sah, tänzelte sie unruhig. Mit einem Seufzen ließ Ravenna der Stute ihren Willen. In flottem Trab schloss sie zu Ghost auf. Ravenna konnte sich das siegessichere Grinsen auf Luciens Gesicht gut vorstellen, als er nun voranritt.
    »Danke«, raunte er jedoch, als der weitläufige Vorplatz und das Eingangsgebäude mit dem Torbogen in Sicht kamen. »Danke, dass Ihr mir gefolgt seid und mich nicht vor Chandler und den anderen bloßstellt.«
    »Dank mir lieber nicht zu früh«, fauchte sie ihn ungnädig an. »Ich werde nämlich unter keinen Umständen die Magierin des Sommerfestes. Und jetzt möchte ich augenblicklich mit den Sieben sprechen. Da du dich weigerst, werden sie mir den Weg zurück in meine Zeit zeigen.«

Die erste Lehrstunde

    Kurze Zeit später saß Ravenna wieder auf der mit Stroh gefüllten Matratze in ihrer Kammer und starrte düster auf die Einrichtung. Stuhl, Tisch, Bett und weißgekalkte Wand – diese Zelle sollte nun ihr neues Zuhause sein. Für wie lange?, fragte sie sich. Es muss doch irgendeinen Ausweg geben – es muss! Verzweifelt ballte sie die Fäuste.
    Nach dem Ausritt hatten die Sieben sie nicht empfangen. Sie hatte gebeten und gebettelt und die strenge Nonne angeschrien, der Chandler sie übergeben hatte, doch es half nichts. Die Frau hatte sie erst ignoriert und dann auf ihre Kammer geschickt. Da saß sie nun – eine Gefangene der Zeittore.
    Sie konnte den Odilienberg nicht verlassen. Auf dem Rückweg waren Lucian und sie an einem Durchgang in der Heidenmauer vorbeigekommen und sie hatte gesehen, dass die Mauer nicht nur durch Magie gesichert war, sondern zudem schwer bewacht wurde. Ritter in stählernen Rüstungen, bewaffnet mit Schwertern, Lanzen und Schildern, patrouillierten im Wald. Wovor hatten die Bewohner des Hexenbergs nur so viel Angst? Wer war dieser Marquis vom Hœnkungsberg, dass sich Magierinnen, die von Rittern, einem König und einer verhexten Mauer beschützt wurden, vor ihm in Acht nehmen mussten?
    Ravenna schüttelte den Kopf. Je länger sie über das Gespräch nachdachte, das sie mit Lucian auf dem Ausritt geführt hatte, desto auswegloser und verrückter erschien ihr ihre Lage.
    Als es an der Tür klopfte, zuckte sie zusammen. Sie zögerte einen Augenblick, doch dann rief sie: »Herein!« Und war erleichtert, die dicke Serviererin zu sehen, mit der sie beim Frühstück beinahe zusammengeprallt war. Die Frau brachte ihr ein Holzbrett mit knusprigem Speckfladen, Obst und ein großes Glas

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