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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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meinte er trocken. »Ganz abgesehen davon, dass ich meine Ehre als Ritter einbüßen würde, wenn ich es zulasse. Constantin würde mich aus der Burg jagen und die Sieben verfluchen mich bis zu meiner letzten Stunde. Nein …« Lucian schauderte. »Wenigstens bis zum Tag der Schwertleite müsst Ihr bei uns bleiben.«
    »Und dann?«, grollte Ravenna. »Was geschieht eigentlich bei diesem Turnier?«
    »Beim Lanzenstechen ermitteln wir, wer von uns Tades Nachfolger wird«, erklärte Lucian. »Alle jungen Ritter aus der Burg nehmen daran teil. Der Sieger wird von seiner Herrin die Schwertleite empfangen und am Mittsommermorgen als ihr Gefährte geweiht.«
    »Oh, da kenne ich aber eine ganze Reihe junger Frauen, die an diesem Tag Schlange stehen werden!«, murmelte Ravenna. Missmutig dachte sie an die Blonde mit der weißen Haube oder an das Mädchen mit den geflochtenen Haarschnecken.
    »Es wird keine der Jungmagierinnen ausgewählt werden«, sagte Lucian leise. »Melisendes Nachfolgerin steht bereits fest.«
    »So?« Ravenna runzelte die Stirn. Je länger sie sich in der Welt der Hexen aufhielt, desto weniger begriff sie die Regeln, nach denen alle anderen in ihrer Umgebung lebten.
    Lucian betrachtete sie lange. »Ihr werdet diejenige sein«, sagte er dann. »So hat es Mavelle vorhergesehen. Die Frau, die bei der Beschwörung durch das Tor tritt, wird als Magierin in den Zirkel der Sieben aufgenommen.«
    Sprachlos starrte Ravenna ihrem Begleiter ins Gesicht. Schließlich beugte sie sich aus dem Sattel und legte eine Hand schwer auf Ghosts Mähnenkamm. »Hör zu, mein Freund, was immer man dir befohlen hat: Heute reite ich vom Berg hinab ins Tal. Und ich komme bestimmt nicht wieder herauf – nicht einmal am Johannistag.«
    Lucians Züge verwandelten sich in eine regungslose Maske. »Wir sind da.«
    Ravenna drehte sich um und folgte dem Fingerzeig des ausgestreckten Arms. Sie hatten eine Felsplatte erreicht, die weit über den Abgrund vorsprang. Keine Bäume verstellten hier die Sicht und man sah ins offene Land hinaus.
    Dort unten lagen der Rhein und die Stadt Straßburg – Ravenna hätte selbst mit verbundenen Augen in die richtige Richtung gezeigt. Wie klein die Stadt von hier oben wirkte! Dann stutzte sie. Irgendetwas war anders als sonst. Die weit verzweigten Flussarme, die sich durch die Ebene schlängelten, die Aufteilung der Stadtbezirke und die mittelalterlichen Tore …
    Ravenna keuchte, als ihr Blick auf die Kathedrale fiel. Der Nordturm fehlte. Das Langhaus war erst zur Hälfte fertiggestellt, doch selbst von ihrer hohen Warte aus erkannte sie den romanischen Stil. Diesen Bauabschnitt hatte sie schon oft gesehen – bei einem Modell, das im Lager der Dombauhütte stand. Die Miniatur stellte das Münster im Jahre 1253 dar, kurz vor dem Abriss des Langhauses, das sie nun in voller Pracht vom Berg aus sah. Damals waren alle bislang fertiggestellten Teile wieder entfernt worden, weil die Rundbögen und wuchtigen Linien nicht dem Geschmack des Bischofs entsprachen. Sie mussten einer verspielteren Bauweise weichen. Und nun war aus damals heute geworden.
    »Herrin? Ravenna!« Erst als Lucian sie an der Schulter packte, merkte sie, dass sie im Sattel schwankte. Krampfhaft umfasste sie das Sattelhorn und rang nach Luft. Da hatte sie nun den Beweis, auf den sie den ganzen Morgen über gelauert hatte: Man schrieb das Jahr 1253. Seit ihrem Aufbruch vom elterlichen Hof, der für sie erst gestern gewesen war, waren mehr als siebenhundert Jahre vergangen. Nein – sie waren rückwärts gelaufen wie ein Film, der in die Vergangenheit zurückspulte. Aber was für eine Vergangenheit war das? Hier war sie vollkommen fremd! Sie kannte niemanden, und alle, die sie liebte, waren noch nicht geboren.
    »Ich kann nicht … ich halte das nicht aus«, stammelte sie. Wütend fegte sie Lucians Arm zur Seite. »Das ist also deine Aufgabe? Du solltest mir schonend beibringen, dass es keinen Ausweg gibt? Aber du irrst dich, wenn du glaubst, ich lasse mir das so einfach gefallen.«
    Als sie der Stute diesmal die Sporen gab, bäumte Willow sich auf. Unvermittelt schoss das Pferd vorwärts, jagte von der Steinplatte zurück in den dunklen Wald. Lauf!, feuerte Ravenna Willow in Gedanken an. Lauf schneller! Die Hufe trommelten über den Waldboden. Zweige peitschten über sie hinweg. Wenn sie erst einmal unten in der Rheinebene war, würde sie schon einen Ausweg finden. Wahrscheinlich gab es mehr als ein Tor, mehr als einen Ausweg aus der

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