Die Hexen - Roman
älteren Schülerinnen den Garten betrat. Als sie Ravenna erkannte, glitt ein überraschter Ausdruck über ihre Züge.
»Sieh an, sieh an, die Verwandlung hat eingesetzt. Wenn du dich hier nützlich machen willst, musst du allerdings den Rock schürzen – etwa so.« Mit wenigen Handgriffen zeigte sie Ravenna, wie sie das lange Gewand mit dem Gürtel raffen konnte, damit der Saum nicht durch den Schmutz schleifte.
»Ich soll den Klostergarten umgraben?« Argwöhnisch betrachtete Ravenna die Beete. Aveline und sie standen auf der letzten Aussichtsterrasse. Eine Sonnenuhr und ein Türmchen, das als Observatorium diente, säumten den Felsvorsprung, auf dem der Garten angelegt war. Blaue Wolken schwebten über dem Flusstal, wie mit dem Pinsel in den Himmel getupft.
Aveline erledigte die Gartenarbeit nicht allein: Dutzende kleiner Mädchen mit Strohhüten und weißen Hauben halfen ihr, Weidenruten zu flechten und daraus die Begrenzungen der Beete herzustellen. Manche jäteten Unkraut und breiteten frisches Stroh um die Setzlinge aus, andere schleppten Gießkannen, um Erbsen, Zwiebeln und junge Karotten zu wässern.
Aveline seufzte. »Beginnen wir also ganz am Anfang. Erstens: Das ist kein Kloster, sondern ein Konvent. Zweitens ist es eine hochmagische und sehr begehrte Angelegenheit, den Garten umzugraben. Man könnte stattdessen nämlich auch in der Bibliothek sitzen, in staubigen Bücher n lesen und Zauberformeln auswendig lernen. Nicht wahr, Mirelle?«
Die Angesprochene nickte. Ihre Hände waren voller Erde, denn sie pflanzte gerade winzige Bohnensprösslinge ein. Um jeden Setzling zog sie mit dem Finger einen Kreis und murmelte einen Spruch. Sofort glättete die Erde sich und der Setzling richtete sich auf. Es ging so schnell, dass Ravenna ihre Beobachtung zunächst für Einbildung hielt. Aber dann fiel ihr auf, dass es die anderen Mädchen genauso machten. Jede murmelte oder flüsterte bei der Arbeit vor sich hin, die Finger führten flinke Gesten aus, und manche der Mädchen schlossen die Augen, um sich besser auf die Magie zu konzentrieren. Ein Zaubergarten, im wahrsten Sinn des Wortes.
Kopfschüttelnd folgte sie der jungen Hexe. Aveline führte sie herum und fragte sie gleichzeitig aus. Offenbar wollte sie sich ein Bild vom Kenntnisstand ihres Schützlings machen. Ravenna war nicht gerade erfreut darüber, dass die schnippische junge Hexe ihre erste Ausbilderin sein sollte – ein Mädchen von höchstens sechzehn Jahren. Ihr entging nicht, dass Aveline sie mit gerunzelter Stirn musterte. Die Tatsache, dass ihre dunklen Augenbrauen in der Mitte zusammengewachsen waren, unterstrich ihr grimmiges Aussehen noch.
»Bevor du dich an Magie wagst, musst du begreifen, in welcher Umgebung sie gewirkt wird«, erklärte die junge Hexe. »Alles hat Einfluss aufeinander, wie bei einem dicht gewebten Wandteppich. Wenn du das nicht begreifst, richtest du mehr Schaden an, als du wieder gutmachen kannst. Also: Welchen Mondstand haben wir heute?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Ravenna wahrheitsgetreu. In ihrer Stadtwohnung am Kanal sah sie den Mond nur selten. Manchmal schien er rund und voll durchs Fenster, dann wieder als schmale Sichel. Nur daran erkannte sie, dass sich die Mondphasen abwechselten.
Aveline schien ihre Antwort bereits erwartet zu haben. Mit hochrotem Kopf stapfte sie zwischen den Beeten umher. »Das war ja klar«, murmelte sie vor sich hin. »Wir haben kaum Zeit, der Kreis der Geweihten droht zu zerbrechen und dann bringt man mir auch noch eine Anfängerin aus dem Tal der Ahnungslosen. Selbst Celine hat mehr Vorbildung als du.«
Sie strich einem Mädchen über den Kopf, das höchstens sieben oder acht Jahre alt war. Die Kleine schien unter der Hand der Zauberin vor Stolz gleich um mehrere Zentimeter zu wachsen. Eifrig bohrte sie mit dem Stock Löcher in den Boden und ließ Rettichsamen hineinfallen. Dann verschränkte sie die Arme hinter dem Rücken und starrte die Löcher an. Sie schlossen sich, ohne dass Celine einen Finger rührte. Wenige Augenblicke später brachen die Keimblätter hervor.
Ravenna starrte das Mädchen an. Sie sah der kleinen Yvonne zum Verwechseln ähnlich: derselbe dicke Zopf, dieselben strahlenden Augen und das Grübchen in der rechten Wange. Dann erinnerte sie sich – eine von Melisendes Enkelinnen wurde im Konvent erzogen. Das hatte Lucian ihr auf dem Ausritt erzählt. Gab es vielleicht so etwas wie eine Familienähnlichkeit, die über siebenhundert Jahre Bestand
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