Die Hexen - Roman
hatte?
Nachdenklich folgte sie der jungen Hexe durch den Garten. Sie hörte kaum zu, als Aveline sie über die Pegelstände am Fluss, über Wolkenformen und den Aussaatkalender ausfragte, und gab ihr nur unkonzentriert Antwort. Schließlich blieb Aveline vor einem Beet stehen, in dem wilde Kräuter wucherten.
»Was wächst hier?«, fragte sie matt. Sie schien keine zufriedenstellende Auskunft mehr zu erwarten, aber diesmal antwortete Ravenna ohne großes Nachdenken: »Beinwell, Johanniskraut und Schafgarbe. Das erste hilft bei Knochenbrüchen, das zweite gegen Niedergeschlagenheit und das dritte tut dem Magen gut.«
Misstrauisch musterte Aveline sie. Ravenna zuckte die Achseln. »Ich hatte eine Großmutter, die einen Kräutergarten besaß, den größten in Ottrott. Zumindest hat das der Bürgermeister immer über den Zaun gerufen, wenn er mit dem Rad vorbeifuhr. Er nannte Mémé dann immer ›meine Hildegard‹, nach der berühmten Benediktinerin.«
Avelines mürrisches Gesicht erhellte sich. »Hildegard von Bingen! Ich kenne ihre Lehren. Eine kluge, weitsichtige Frau. Und eine echte Hexe. Wenn man den Legenden glauben darf, besaß sie das zweite Gesicht. Hier auf dem Odilienberg wurden mehrere ihrer Urenkelinnen ausgebildet, aber keine gewann solchen Einfluss wie sie «, erzählte die junge Hexe. »Na schön«, meinte sie dann. »Hier hätten wir also die Heilpflanzen. Was wächst dort drüben?«
Ravenna kniff die Augen zusammen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden. »Fingerhut. Daraus gewinnt man eine Medizin für das schwache Herz – übrigens auch in meiner Zeit. Daneben stehen Tollkirsche und Bilsenkraut. Das sind Giftpflanzen. Diesem Beet würde ich also lieber nicht zu nahe kommen. Ihr pflanzt hier so ziemlich alles an, außer Tabak, Tomaten und Kartoffeln. Die sind nämlich noch nicht entdeckt worden.«
Aveline blinzelte verwirrt. »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Aber das hier ist kein Ratespiel, bei dem wir uns gegenseitig übertrumpfen, sondern deine erste Lehrstunde in Sachen Hexenmagie.« Trotz der Rüge nickte sie zufrieden. »An der Anordnung der Beete erkennst du, dass der Garten einen bestimmten Aufbau hat. Dort stehen die Küchenkräuter und Gemüsesorten, hier wachsen Nutzpflanzen wie Flachs und Hanf und hinten an der Mauer findest du alle Pflanzen zu medizinischen Zwecken. Fragt sich also, was in diesem Teil des Gartens wächst.«
Sie führte Ravenna zu einem Gitter aus biegsamen Ästen, die kunstvoll miteinander verflochten waren. An den Zweigen rankte eine kräftige Kletterpflanze empor. Im Vorbeigehen rieb Ravenna die Blätter zwischen den Fingern. Sie hatte keine Ahnung, welches Kraut das war. Im Laub hingen Blüten, die wie Papierlampions aussahen und geheimnisvoll leuchteten.
Hinter dem Gitter lag der seltsamste Garten, den sie je betreten hatte, denn dort wuchsen ausschließlich schwarze Blumen: Rosen, Lilien, Malven und düstere Akelei. Die Beeren und Früchte glänzten tiefschwarz und die Blätter an den Büschen schimmerten, wodurch sich der Eindruck verstärkte, dass sie aus dem farbenfrohen Sonnengarten in ein Schwarz-Weiß-Foto getreten waren. Alle Geräusche – das Summen der Bienen, das Vogelgezwitscher und die Stimmen der Mädchen – waren verstummt.
Das ist echt abgefahren, schoss es Ravenna durch den Kopf. Und gruselig.
»Alles, was du hier siehst, dient magischen Zwecken«, erklärte Aveline. »Hier wachsen Pflanzen zum Hellsehen, zum Verfluchen und Erlösen, tödliche Kräuter neben solchen, die einen Toten wieder zum Leben erwecken. Wenn wir einmal mehr Zeit haben, werde ich dir gerne mehr erklären. Heute aber ist deine Aufgabe zu bewirken, dass dieser Kelch überfließt.«
Auf der flachen Hand streckte sie Ravenna einen Siegelring entgegen, der Teil des Schatzes aus dem Hexensaal war. In der Mitte der Windrose befand sich ein Kelch. Er war aus Silber geschmiedet und kaum größer als ein Fingernagel.
Ravenna lachte matt. »Wie soll ich das schaffen? Dieser Kelch ist nichts anderes als eine Skulptur aus Metall.«
Aveline zuckte die Schultern. »Das sollst du ja herausfinden. Genau das lernen die Mädchen in der ersten Stufe der Ausbildung – und sie lernen nichts anderes. Solange sie bei mir in die Lehre gehen, haben sie die Möglichkeit, die Ausbildung jederzeit abzubrechen, falls sie feststellen, dass der Weg der Magie für sie nicht das Richtige ist. Sobald sie der nächsten Zauberin begegnen, gibt es kein Zurück mehr.«
Ravenna starrte
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