Die Hexen - Roman
eng beschrieben, dass Ravenna den Text kaum entziffern konnte. Sofort fühlte sie sich an den Unterricht in Baustatik erinnert. Eine unangenehme Erinnerung, denn Berechnungen zählten nicht gerade zu ihren Lieblingsfächern.
Sie drehte sich um. Aveline hatte den Strohhut auf die Bank gelegt, ihr Gesicht war von der Sonne gerötet. Sie grinste schwach. »Hier lernen die Schülerinnen, wie man magische Tränke, Salben, Tinkturen und Heilmittel zubereitet«, erklärte sie. »Sie lernen es auswendig. Bei der Abschlussprüfung sind diese Aushänge selbstverständlich verschwunden.« Sie deutete auf eine große Truhe aus Eichenholz. Das Vorhängeschloss war von einem düsteren Leuchten umgeben, wie der Docht einer sterbenden Kerze.
Magie, dachte Ravenna und beschloss, der Truhe nicht zu nahe zu kommen.
»Gestern Abend im Blauen Saal hast du unseren Willkommenstrank gekostet«, fuhr die junge Hexe fort. »Es ist der Beginn deiner Ausbildung. Bei manchen Mädchen löst der Trunk Visionen aus, einen Ausblick auf die Zukunft. Deshalb ist es wichtig, sich zu erinnern, was man in der ersten Nacht auf dem Odilienberg träumt.« Sie blickte Ravenna forschend an.
Eine Frau mit einem Licht in der Hand. Eine Zauberin im grauen Mantel und eine weiße Flamme, die in der Dunkelheit erstickte. Ravenna hatte das Gesicht in ihrem Traum nicht klar erkennen können, aber die Erscheinung hatte sich in ihrer Erinnerung eingebrannt. Sie schwieg.
Ihre Begleiterin seufzte und schwenkte den großen Kessel herum. »Wie du willst. Du musst nicht darüber reden.«
Sie klatschte in die Hände. Sofort züngelten helle Flammen unter dem Kessel hoch, wie auf dem Gasherd in Ravennas Küche.
»Wie lange dauert die Ausbildung denn?«, fragte Ravenna, während sie Aveline zu einem großen Schrank folgte, der in einer Ecke stand.
»Sieben Jahre, wenn alles gutgeht«, erklärte die junge Frau. »Nehmen wir mich als Beispiel. Nächsten Winter werde ich siebzehn. Ich war acht, als ich herkam, denn meine Eltern haben meine Gabe zum Glück früh erkannt. Sieben Jahre Ausbildung, die Einweihung – und nun bin ich hier.« Sie öffnete den Schrank, der eine Unmenge an Tonkrügen in verschiedenen Größen, Zinnbecher, Zangen und Wiegemesser, Siebe, Leintücher und Mörser enthielt. »Allerdings gelangen nicht alle Mädchen ans Ziel«, fuhr sie fort, während sie einige Gegenstände auswählte und auf den Tisch stellte. »Vor der Aufnahme in den Zirkel der Sieben erfolgt nämlich noch ein entscheidender Schritt: Die Göttin muss sich der neuen Magierin zeigen. Tut sie es nicht, dann waren es sieben Jahre verlorene Liebesmüh.«
Ravenna hatte von der langen Rede nur wenige Worte gehört: Sieben Jahre Ausbildung! Nervös knetete sie ihre Finger. Sie hatte sich eingebildet, dass alles ganz schnell gehen würde. Da man sie nicht freiwillig zurückbringen wollte, plante sie, auf eigene Faust herauszufinden, wie man die Tore bediente. Der Weg zur Druidenhöhle war nicht allzu weit und der Dolmen lag innerhalb der Mauer. Wenn es jedoch sieben Jahre dauerte, ehe man die Grundlagen der Magie begriff …
»Genug geplaudert«, beschloss Aveline. »Vor dem Abendessen möchte ich wenigstens einen Versuch wagen. Eine ordentliche Ausbildung wird das ohnehin nicht, bei dieser Zeitnot.«
»Sieben Jahre erscheinen mir nicht gerade wie Zeitnot«, murmelte Ravenna. Lustlos stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um in den Kessel zu sehen. Er war leer.
Dann drehte sie sich zu der jungen Magierin um. Da war er wieder, der Schmollmund und der gereizte Blick. Avelines Augenbrauen bildeten einen wütenden Strich. »Wofür andere sieben Jahre brauchen, hast du genau sieben Tage Zeit. Dann nämlich findet das Lanzenstechen statt und Tades Nachfolger benötigt eine Zauberin, die sein Schwert weiht. Der gesamte Stadtrat wird anwesend sein und die hohen Herren dürfen nicht einmal ahnen, dass du keineswegs jahrelang auf Melisendes Nachfolge vorbereitet worden bist. Ich persönlich bezweifle sehr, dass das gelingt, aber man kann nie wissen: Morrigans Humor ist manchmal ziemlich seltsam.«
Sprachlos starrte Ravenna sie an. Sieben Tage! In sieben Tagen wollten die Magierinnen vom Odilienberg aus ihr eine richtige Hexe machen! Nach allem, was sie bislang über den Kreis der Geweihten erfahren hatte, schien ihr dieser Plan vollkommen undurchführbar.
Als Aveline sie zu dem Tisch neben dem Kessel winkte, gehorchte sie zögernd. Die junge Zauberin zeigte ihr, wie sie aus Alraunenwurzel und
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