Die Hexen - Roman
auf den Silberring. Als Aveline ihr das Siegel aufdrängte, nahm sie es und hielt es ratlos in der Hand. Dann fiel es ihr wieder ein: Lucian hatte davon gesprochen, dass die Sieben die Siegel aktivierten, um den geheimnisvollen, magischen Strom zu lenken. Aber sie war Steinmetzin, keine Hexe. Sie glaubte nicht einmal an Magie. Zumindest nicht allzu sehr.
»Ich weiß, was du denkst.«
»Ach ja? Was denn?«
Mit gerunzelter Stirn starrte Ravenna die junge Hexe an. Sie mochte es nicht, wenn sie beobachtet wurde. Aveline blieb von ihrem finsteren Gesichtsausdruck völlig unberührt.
»Du denkst dir, was soll das Ganze? Richtig? Weißt du, das fragen sich alle, die auf den Odilienberg kommen und erwarten, dass sie gleich am ersten Tag einen Verwandlungszauber lernen. Doch mach dir bitte Folgendes klar: Du bist eine Tormagierin. Eine Zaunreiterin, wie manche sagen. Diese Gabe ist am begehrtesten, denn mit ihr ist die Zeit nicht länger ein Hindernis. Sieben Tage oder siebenhundert Jahre – was macht das für einen Unterschied? Deswegen interessieren sich besonders Schwarzmagier für dein Talent.«
Bei diesen Worten starrte Aveline sie durchdringend an. Mit einem mulmigen Gefühl dachte Ravenna an ihr Gespräch mit dem jungen Ritter. Schwarze Magie – davon hatte auch Lucian gesprochen. Sie wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, aber die Hexen schienen diese Bedrohung sehr ernst zu nehmen. Genau wie Yvonne, dachte sie plötzlich, und der verkohlte Fleck auf ihrem Küchenboden fiel ihr ein. Unbehaglich zog sie die Schultern hoch.
»Auch die Marquise auf dem Hœnkungsberg besitzt diese Gabe«, fuhr Aveline fort, »allerdings nicht in demselben Ausmaß wie du. Sie hat ein Tor aufgetan und den Bann eines Dämons gelöst, der das Tageslicht besser nie wieder erblickt hätte. Wir … das heißt, die Sieben hatten ihn bereits schon einmal gebannt. Es geschah im Jahr meiner Geburt, doch noch heute spricht man davon, wie teuer dieser Sieg erkauft war.«
Ravenna merkte, dass sie am ganzen Körper Gänsehaut bekam. Lag es am kühlen Schatten, der über dem Garten hing? Auch zur Mittagsstunde drang kein Sonnenstrahl in diese Ecke. Oder lag es an der unheimlichen Geschichte, die Aveline ihr erzählte?
»Du redest von Beliar.«
Die junge Hexe nickte. »Genau. Beliar. Seit der Bann gebrochen wurde, der ihn an den Pol der Nacht kettete, beobachten wir, wie er immer stärker wird. Offenbar ist er mit großen Plänen zurückgekehrt. Und damit sind wir wieder bei dem Punkt, was das Ganze mit dir zu tun hat: Du schwebst in großer Gefahr. Von dem Augenblick an, an dem du durch das Tor kamst, hat Beliar … wie soll ich es am besten ausdrücken? Er hat Witterung aufgenommen. Möglicherweise war er dir auch schon vorher auf der Spur. Er braucht jemanden wie dich, wenn er seine Pläne in die Tat umsetzen will.«
Ravenna schien das Blut in den Adern zu gefrieren. Aveline konnte unmöglich wissen, was ihr in Straßburg zugestoßen war. Nicht einmal ihre Eltern wussten Bescheid. Yvonne war die Einzige, die sie ins Vertrauen gezogen hatte. Sie holte tief Luft.
»Und was hat das Siegel damit zu tun?«, fragte sie.
Aveline seufzte. »Du wirst dich nur verteidigen können, wenn du deine Gabe beherrschst. Deshalb werden wir dir alles beibringen, was wir wissen. Dieser Kelch enthält das Geheimnis von Imbolg. Entdecke es und du hast den ersten Schritt getan.«
Durch den magischen Garten führte Aveline sie nun zu einer Pforte, durch die sie in einen Nebenraum des Konvents gelangten. Alles wirkte ordentlich und aufgeräumt. Holzbänke standen um eine Feuerstelle mit Rauchabzug. Sie waren angeordnet wie in einem Hörsaal. Über einem Haken an der kalten Feuerstelle war ein Kupferkessel befestigt.
An den Wänden hingen Pergamentb ö gen, die zwischen zwei Holzschienen geklemmt waren. An der oberen Schiene war ein Faden befestigt, der an einem Nagel hing, die zweite Schiene beschwerte den Bogen. Eine Handschrift zeigte eine Übersicht des Gartens mit der Einteilung der Beete. Dann folgten Darstellungen von verschiedenen Pflanzen. Der dazugehörige Text beschrieb die Heilwirkung und warnte vor der Giftigkeit mancher Kräuter. Ein anderes Dokument stellte die Mondphasen dar, ein weiteres den Sonnenbogen im Verlauf eines Jahres. Die letzte Schriftrolle zeigte eine Art Landkarte, über die massenhaft Halbkreise, Dreiecke und Tangenten gezeichnet waren, beschriftet mit winzigen Pfeilen, Sicheln und Zahlen. Dieser Pergamentbogen war so
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