Die Hexen - Roman
Speisesaal mit sich. Niemand verlangte von ihr, Tades Nachfolger mit ins Bett zu nehmen. Wahrscheinlich ging es bei der ganzen Angelegenheit zwischen Ritter und Hexe um etwas ganz anderes, um irgendeine Mischung aus Minnesang und Magie. Außerdem fand das Turnier erst in ein paar Tagen statt. So lange wollte sie keinesfalls auf dem Odilienberg bleiben – nicht, wenn es einen Ausweg gab.
Während des Abendessens saß sie am Tisch der Sieben. Solange sie sich in der Nähe der Magierinnen aufhielt, starrte sie keines der Mädchen an. Alle verhielten sich respektvoll und murmelten beim Hinausgehen höfliche Grüße. Von Lucian war keine Spur zu sehen. Ravenna merkte zu ihrer eigenen Überraschung, wie enttäuscht sie war, ihm nicht wieder zu begegnen. Offenbar lebten die Ritter, wenn sie sich nicht gerade in Constantins Burg aufhielten, in einem eigenen Trakt über dem Tor. Stattdessen hörte sie zu, wie Aveline ihre Fortschritte lobte. Sie vermied es, selbst viel dazu zu sagen, und häufte sich stattdessen eine weitere Portion Eintopf auf den Teller.
Später jedoch, als sie mit unter dem Kopf verschränkten Armen auf dem Bett in ihrer Kammer lag, kamen ihr andere Gedanken. Der Hexengarten mit seinen bunten Beeten zog vor ihren Augen vorüber und sie atmete wieder die Gerüche in der Siedeküche. Sei ehrlich zu dir selbst, ermahnte sie sich, der heutige Tag hat dir Spaß gemacht. Du hast es genossen, etwas Neues zu lernen. Echte Eindrücke aus dem Mittelalter. Und du hast dich tatsächlich nicht ungeschickt angestellt.
Seufzend stützte sie die Schultern gegen das Kopfende des Bettgestells und stopfte sich das harte Kissen in den Rücken. Sie war hellwach und viel zu aufgewühlt, um einzuschlafen. Ab und zu wanderten ihre Gedanken zu Lucian. Ob sie ihn wohl morgen wiedersah?
Schließlich gab sie den Versuch auf, auf der harten, pieksenden Matratze einzuschlafen. Sie stand auf und schob den Stuhl vor das Fenster. Nackt bis auf das Triskel, das sie um den Hals trug, stellte sie sich auf die Sitzfläche.
Von ihrer Kammer aus blickte sie in den Innenhof hinunter. Die Luft war mild und die Blätter der Linden rauschten im Wind. Am Brunnen neben dem Eingang standen ein schlankes Mädchen und ein junger Krieger. Sie tuschelten miteinander, und als sie sich küssten, glitzerte das Kettenhemd des Ritters im Fackelschein.
Ravenna starrte angestrengt zu den beiden hinunter, doch sie konnte die Gesichter nicht erkennen. Ob sich Lucian auf dem Ausritt auch so zuvorkommend verhalten hätte, wenn er hier im Konvent eine Geliebte hatte? Seufzend hob sie den Blick. Der Himmel war klar und nahezu wolkenlos und sie konnte einzelne Sterne sehen. Sie sprang vom Stuhl herunter und zog sich das Unterkleid über den Kopf. Auf bloßen Füßen schlich sie die Treppe hinunter und achtete darauf, niemanden zu wecken. Weder in den langen Gängen im ersten Stock noch vor dem Speisesaal begegnete ihr jemand, und als sie in den Hof hinaustrat, waren auch der junge Ritter und das Mädchen verschwunden.
Zu ihrer Überraschung bemerkte sie, dass das Tor des Konvents offen stand. Zögernd wandte sie sich dem Ausgang zu und erwartete, erneut aufgehalten zu werden, doch unter dem Gewölbegang stand kein Wächter. Es roch nach Heu und aus dem Stall hörte sie das gedämpfte Hufescharren der Pferde. Einige Schritte noch, dann lagen die abschüssige Wiese und der Waldrand vor ihr.
Seltsam, dachte sie. Chandler war heute Morgen so vorsichtig gewesen. Er wollte mich nicht einmal alleine ausreiten lassen. Wahrscheinlich lag es an Terrell und seiner Nachlässigkeit, dass nun sogar beide Torflügel offen standen.
Ravenna rollte die Zehen ein, denn das Gras war feucht. Sie konnte zur Druidenhöhle gehen – jetzt sofort. Zu Fuß dauerte der Weg durch den Wald vielleicht zwanzig Minuten. Dann würde sie wieder vor dem Hexenring stehen, der schwach im Dunkeln leuchtete, und ein letzter Schritt brachte sie zurück in ihre Welt.
Sie legte den Kopf in den Nacken und atmete den Duft von frisch gemähtem Gras. Der Himmel war sehr dunkel, doch über dem Flusstal stand eine dünne, scharfe Sichel. Der Mond nimmt eindeutig zu, dachte sie, zufrieden, weil sie nun auch Avelines letzte Frage beantworten konnte. Sie blieb noch ein Weilchen vor dem Tor stehen und genoss die kühle Nachtluft, ehe sie in ihre Kammer zurückkehrte. Diesmal schlief sie sofort ein.
Steine, Blumen und ein Leben
Straßburg im Jahr 2011
»Blickt in den magischen Spiegel. Was seht ihr?«
Die
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