Die Hexen - Roman
Köpfe senkten sich über das Zinnbecken, die Stimmen summten leise. Angespannt beobachtete Yvonne, wie ihre Freundinnen ins Wasser starrten. Ihre Gesichter spiegelten sich neben den Kerzenflammen auf der Wasseroberfläche. Auf dem Grund des Kessels lagen verschiedenfarbige Mineralien, ein runder Schminkspiegel und einer von Ravennas Ringen.
»Was seht ihr?«, fragte Yvonne wieder. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf dem Küchentisch. Mit der anderen Hand kraulte sie die Katze. Merle lag auf ihren Oberschenkeln und schnurrte. Die Luft war schwer vom Duft geschmolzener Weihrauchkügelchen und Räucherstäbchen. Das Fenster war mit einer dünnen Campingmatte verdunkelt und im Hintergrund lief leise Musik.
Diesmal wurden die Freundinnen bei ihrem Tun nicht gestört. Fast wünschte Yvonne jedoch, dass es so wäre und ihre Schwester wieder zur Tür hereingestürmt kam, um das Spiegelorakel durcheinanderzubringen. Aber Ravenna war verschwunden. Aufgelöst hatte ihr die Mutter am Telefon berichtet, dass Johnny allein zurück in den Stall gefunden hatte. Das Zaumzeug war zerrissen, der Sattel vom Regen durchweicht und das Pferd bis zum Bauch mit Schlamm bespritzt, als sei es eine Nacht lang durch die Dunkelheit galoppiert.
Von Ravenna fehlte jede Spur. Seit den frühen Morgenstunden durchkämmte die Polizei nun den Odilienberg und die Umgebung, ohne einen Anhaltspunkt zu finden, was mit ihr geschehen war. Der Einsatzleiter war derselbe Mann, der Ravenna am Brunnen in Obernai entdeckt hatte. Kommissar Gress wirkte alles andere als erfreut, dass er innerhalb weniger Wochen dieselbe Frau suchen musste.
Diesmal wird Ravennas Reise ins Land der Geister Folgen haben, dachte Yvonne. Aber nicht, wenn wir sie vor der Polizei finden! Entschlossen ballte sie die Fäuste.
»Na los, was seht ihr?«, herrschte sie ihre Freundinnen an. »Es kann doch nicht so schwer sein! Schließlich haben wir bei der Vorbereitung alles richtig gemacht. Strengt euch mal ein bisschen an!«
»Es geht nicht«, jammerte Marie. »Vor meinen Augen ist alles verschwommen.«
Mit geschlossenen Augen presste Clara die Fingerspitzen gegen die Schläfen, bis ihr Gesicht ganz spitz und weiß aussah. Yvonne versetzte ihr einen Stoß in die Rippen.
»Du sollst in den Spiegel schauen, du dumme Gans. Wie willst du etwas wahrnehmen, wenn deine Augen geschlossen sind?«
Clara warf ihr einen beleidigten Blick zu und rieb sich die getroffene Stelle. »Du sagst doch immer, dass das dritte Auge zwischen den Brauen auf der Stirn sitzt. Und dass man damit ungewöhnliche Dinge sehen kann. Wozu sollte ich da meine normalen Augen offen halten?«
»Das hier ist ein Orakel, keine Vision«, erklärte Yvonne. »Ihr sollt nicht in die Zukunft sehen. Ich will wissen, wo sich meine Schwester in diesem Augenblick aufhält und nicht, wen sie eines schönen Tages heiraten wird. Niemanden wahrscheinlich, so wie sie sich anstellt.«
»Wozu brauchen wir denn dann die Schale und die Steine? Das haben wir doch sonst immer anders gemacht«, meuterte Juliana. »Ich finde, das viele Drumherum stört bloß die Aufmerksamkeit.«
»Rauch, klares Wasser, Steine und Kerzen«, zählte Yvonne auf. »Das ist doch kein Drumherum. Das sind die magischen Elemente, die in jedem Hexenritual verwendet werden. Wenn du unbedingt willst, kannst du ja die nächste Zeremonie vorbereiten.«
Clara seufzte. Sie rieb sich die Augen, blinzelte einige Male und starrte wieder in das Becken.
Yvonne spürte Ärger in sich aufsteigen. Warum waren ihre Freundinnen so zimperlich und stellten sich derart ungeschickt an? Ausgerechnet jetzt, wo es galt, echte Magie zu wirken, zauderten sie und benahmen sich wie Schulmädchen vor einer bevorstehenden Prüfung.
Ein Wort in einer fremden Sprache stieg in ihren Gedanken auf, mit dem sie die träge Runde im Handumdrehen aufscheuchen konnte. Rasch wischte sie sich mit dem Handrücken über die Stirn und verdrängte das Wort wieder aus ihren Gedanken.
Seit Monaten beschäftigte sich ihr Zirkel nun mit dem Erlernen von Beschwörungsformeln und Zaubersprüchen und versuchte, hinter die Geheimnisse des Hexenwissens zu kommen. Es war schwer, ohne Anleitung durch erfahrene Lehrer die Hexensabbate einzuhalten und die eigenen magischen Kräfte zu entfalten. Zudem hatte Yvonne manchmal den Eindruck, dass sie die Einzige war, die diese Studien ernst nahm. Ihre Freundinnen alberten mit Kräutern, Kraftsteinen und Kelchen herum, ohne zu begreifen, dass bereits der Umgang mit
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