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Die Hexen - Roman

Die Hexen - Roman

Titel: Die Hexen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Hexenkraut einen Sud kochen konnte, der das Siegel aktivierte. Es war schwierig, denn sie musste in einer bestimmten Reihenfolge weitere Essenzen hinzufügen und achtgeben, in welcher Richtung sie umrührte.
    Der erste Versuch misslang kläglich. Ein einzelner Tropfen fiel in den Kelch auf dem Siegel und schäumte ein bisschen. Das war alles. Die zweite Tinktur zauberte einen hässlichen Überzug auf den Silberring, den Aveline fluchend abschrubbte. Zwei- oder drei mal kippte Ravenna den Sud einfach in den Ausguss, ohne einen Tropfen auf das Siegel der jungen Hexe zu träufeln. Sie war schon kurz vor dem Aufgeben, als eine Substanz im Kessel schwamm, die sie entfernt an Quecksilber erinnerte. Das Gemisch erfüllte den Raum mit einem scharfen Geruch. Der Dampf trieb ihr Tränen in die Augen, doch Aveline nickte zufrieden. »Das sieht schon mal nicht schlecht aus«, murmelte sie. »Versuchen wir es!«
    Mit einer langen, dünnen Kelle entnahm Ravenna einen Tropfen und ließ ihn in den winzigen Kelch fallen. Dann starrte sie auf das magische Siegel.
    Täuschte sie sich, oder begannen sich die Zacken der Windrose zu drehen? Erst langsam und dann immer schneller wirbelten sie, wobei die kürzeren Zacken gegenläufig zu den längeren kreisten. Gleichzeitig begannen die Edelsteine auf dem äußeren Silberring zu glühen.
    Aveline lachte. »Das ist es! Du hast es geschafft! Ausgezeichnet! Und nun gib Acht, was dir das Siegel enthüllt!«
    Ravenna konnte die Zacken schon nicht mehr voneinander unterscheiden, alles verwischte zu einem silbernen Strom. Plötzlich brach ein Lichtstrahl aus dem Kelch hervor, der bis zur Decke schoss. Dort brach er und fächerte auseinander wie die Fontäne eines Springbrunnens im Gegenlicht. In diesem Funkeln zeigte sich die Erscheinung aus ihrem Traum wieder. Erneut hob die Gestalt die Hände, der Mantel flatterte im Wind und die kleine Flamme schwebte dem Himmel entgegen. Als der Lichtschein über das Gesicht unter der Kapuze streifte, erkannte Ravenna ihre eigenen Züge.
    Mit einem erschrockenen Ausruf wich sie zurück. In der Nacht hatte sie angenommen, ihre Umgebung flöße ihr diese Bilder ein: der alte Wald, die verhüllten Frauen und die Nachtwanderung auf dem Odilienberg. Doch nun erkannte sie: Sie war die Frau aus dem Traum. Und sie sah wie eine Hexe aus.
    Das Bild verblasste, das glitzernde Licht verschwand. Anschließend lag ein ganz gewöhnlicher Siegelring auf dem Tisch, beschlagen vom Alter und ohne jeden Zauber. Aveline musterte sie wieder mit diesem halb spöttischen, halb nachdenklichen Ausdruck.
    »Das war doch schon mal ein Anfang«, murmelte sie, nahm das Siegel und schob es in ihre Tasche. »Erwarte bitte nicht, dass ich den Traum für dich deute. Das ist Mavelles Spezialität. Allerdings wissen die meisten Anwärterinnen selbst, was die Vision in der ersten Nacht bedeutet.«
    Ravenna schwieg. Voller Unbehagen fühlte sie, wie ihr Herz pochte, und sie hatte das Gefühl, ihre Gedanken waren wie aus Glas – deutlich sichtbar für die Hexen auf dem magischen Berg.
    Sie fuhr zusammen, als es an der Tür klopfte. Ein älterer Mann trat ein. »Verzeiht, Herrin, wenn ich Euch störe, aber das Essen wird soeben aufgetragen und man erwartet Euch im Saal.«
    Aveline nickte und machte den Mann und Ravenna miteinander bekannt. »Ich danke dir. Darf ich dir meine überaus begabte Schülerin vorstellen? Ravenna, das ist mein Gefährte Terrell.«
    Ravenna nickte flüchtig und wandte dann den Blick ab, um den Ritter nicht unhöflich anzustarren. Avelines Gefährte war ein alter Mann. Er hatte schütteres Haar und eine Narbe im Gesicht, die sich von der Schläfe bis zum Kinn zog. Sein Kittel war fleckig und hing unordentlich über den Gürtel, das Kettenhemd wies rostige Stellen auf, und er schlurfte beim Gehen. Er war das vollkommene Gegenteil von Männern wie Chandler oder Lucian, die sogar bei der Stallarbeit sauber und gepflegt wirkten.
    So kann es also auch gehen, sagte sie zu sich, während sie die gebrauchten Gegenstände – Messbecher, Schöpfkellen und eine Waage mit winzigen Bleigewichten – reinigte und samt der Zutaten im Schrank verstaute. Der Gedanke an die bevorstehende Schwertleite erfüllte sie mit Sorge. Was, wenn der Sieger des Turniers ebenso wie Terrell weit über fünfzig war? Wenn er hinkte, stank oder ein aufgeblasener Angeber war? Was, wenn er grob wurde und Dinge von ihr verlangte, die sie nicht tun wollte?
    Was redest du denn da?, schimpfte sie auf dem Weg in den

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